4. März 2004 / aktualisiert am 22. März 2004

VgT-Erfolg vor Bundesgericht:

Das Thurgauer Obergericht muss menschenrechtswidrige Praxis ändern

Das Bundesgericht hat zwei Beschwerden gegen Urteile des Thurgauer Obergerichtes einstimmig gutgeheissen. In beiden Fällen hatte VgT-Präsident Erwin Kessler Beschwerde wegen Verweigerung des rechtlichen Gehörs und damit eine Verletzung von Artikel 6 der europäischen Menschenrechts-Konvention (EMRK) geltend gemacht, weil ihm die Stellungnahmen der Gegenparteien erst zusammen mit dem Urteil zugestellt wurden und er deshalb keine Möglichkeit hatte, sich dazu zu äussern. 

Im ersten Fall ging es um ein Persönlichkeitsschutzverfahren gegen die Neue Luzerner Zeitung (BGE 5P.18/2004; siehe Erwin Kessler hat keine gefälschte Talmud-Zitate verbreitet - die Neue Luzerner Zeitung muss eine Richtigstellung veröffentlichen). Im zweiten Falle (BGE 5P.446/2003) ging es um ein Persönlichkeitsschutzverfahren gegen den Journalisten Redaktor Hans Stutz, der offenbar von Berichten über angebliche Rassismus-Vorfälle lebt und seit Jahren immer wieder auch über Erwin Kessler schreibt und deshalb in zahlreiche Ehrverletzungsverfahren verwickelt ist. Auch ein Strafverfahren wegen falscher Zeugenaussage zu Ungunsten von Erwin Kessler ist gegen ihn hängig.

Das Obergericht wird nun diese menschenrechtswidrige Praxis ändern müssen.

 

Juristische Erläuterungen von Erwin Kessler:

Das Obergerich hat mir als Berufungskläge die Berufungsantwort der Gegenpartei erst zusammen mit dem bereits gefällten Urteil zugestellt. Dadurch wurde mir die Möglichkeit, zu allfälligen in der Berufungsantwort vorgebrachten neuen Gesichtspunkten Stellung zu nehmen, im vornherein verunmöglicht.

Wie weit den Parteien das rechtliche Gehör zu gewähren ist, liegt nicht im Ermessen des Gerichts und hängt insbesondere nicht davon ab, ob die Gewährung des rechtlichen Gehör im konkreten Fall nach Auffassung des Gerichtes geeignet ist, das Urteil zu beeinflussen. Das rechtliche Gehör ist ein fundamentaler, durch Artikel 6 der Europäischen Menschenrechts-Konvention (EMRK) geschützter Verfahrensgrundsatz, der gemäss Praxis des Gerichtshofes (EGMR) immer und konsequent zu beachten ist. Das bedeutet nicht, dass die Parteien den Schriftenwechsel endlos ausdehnen können. Das Beschleunigungsgebot verbietet unnötig lange Verfahren. Indessen kann einer Partei grundsätzlich nicht verwehrt werden, zu neuen Vorbringungen der Gegenpartei Stellung zu nehmen, auch nicht über den in der Prozessordnung vorgesehenen Schriftenwechsel hinaus. Das Gericht kann gegen ein ausuferndes Hin- und Her mit Ordnungsbussen wegen verspäteter Vorbringung von Noven einschreiten (zB wenn diese ohne triftigen Grund erst im zweiten Schriftenwechsel vorgebrachte werden) und Stellungnahmen über den gesetzlichen Schriftenwechsel hinaus, die nicht durch wesentliche neue Vorbringungen der Gegenpartei gerechtfertigt sind, aus dem Recht weisen.

Im vorliegenden Fall wurde handelt es sich bei der mir Stellungnahme der Gegenpartei, die mir erst mit dem Urteil zugestellt wurde, um die Berufungsantwort, also um eine in der Zivilprozessordnung vorgesehene Parteieingabe. Diese bildete unbestreitbar eine Beurteilungsgrundlage, zu deren Bechtung das Obergericht verpflichtet war. Ob davon das Urteil beeinflusst wurde oder nicht, ist gemäss Praxis des EGMR für die Gewährung des rechtlichen Gehörs nicht entscheidend.

Frowein/Peukert (EMRK-Kommentar, 2. Auflage, Artikel 6, Rz 72) halten fest, dass dieses aus EMRK 6 fliessende Recht auf Kenntnis aller Akten und Eingaben unabhängig davon bestehe, ob sie entscheidungserheblich sind oder nicht. Im gleichen Sinne auch Jörg Paul Müller, Grundrechte in der Schweiz, 3. Auflage, Seite 516, und im gleichem Sinne vorallem auch der EGMR in einem präjudiziellen Entscheid gegen die Schweiz (Beschwerde Nr 33499/96).

Gemäss Villiger, Handbuch der EMRK, 2. Auflage, Rz 489, verlangt das durch Artikel 6 EMRK garantierte rechtliche Gehör, dass jede Partei über Eingaben der anderen Partei informiert werden. Eine Zustellung erst nach Fällung des Urteils ist damit sicher nicht gemeint.

Es gibt weder eine Notwendigkeit noch einen vernünftigen Grund, eine Eingabe der Gegenpartei erst nach Urteilsfällung zuzustellen. Was soll das für einen Sinn haben? Staatliches Handeln muss grundsätzlich einen Sinn haben und im öffentlichen Interesse liegen. Eine sinnlose Einschränkung des rechtlichen Gehörs wird vom EGMR wohl kaum geschützt.

Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs ist ein absoluter Nichtigkeitsgrund, dh sie muss unabhängig davon, ob sie sich nachweislich auf das Urteil ausgewirkt hat, zur Kassation führen (Jörg Paul Müller a.a.O. Seite 518).

Ich räume ohne weiteres ein, dass - wenn nach kantonaler Prozessvorschrift nur ein einfacher Schriftenwechsel vorgesehen ist -, die Gelegenheit zu einer Replik nur dann gewährt werden muss, wenn die Gegenpartei in ihrer Eingabe Neues vorbringt. Die Gegenpartei behauptete in ihrer Stellungnahme vor Bundesgericht, in der Berufungsantwort sei nichts Neues vorgebracht worden. Was soll eine Eingabe, die nichts Neues bietet? Eine reine Schikane des Gerichtes?

Was Neu ist, ist nicht immer klar entscheidbar. Wird ein vor Vorinstanz nur kurz vorgebrachtes Argument im Berufungsverfahren viel umfassender dargelegt oder präziser formuliert, kann die Grenze zum Neuen überschritten werden. Es ist deshalb angebracht, dass die Gegenpartei rechtzeitig Gelegenheit erhält, dies zu beurteilen. Reicht sie dann eine Replik ein, ohne neue Vorbringungen der Gegenpartei geltend machen zu können, wäre diese Replik aus dem Recht zu weisen. Es gibt deshalb keinen rechtfetigenden Grund, dem Berufungskläger eine allfällige Stellungnahme zur Berufungsantwort im vornherein absolut zu verunmöglichen, indem ihm die Berufungsantwort nicht zur Kenntnis gebracht wird.

 

Urteilsbegründung des Bundesgerichtes in Sachen NLZ (BGE 5P.18/2004; im Fall Stutz analog):

 

Parallel zu diesen zwei einstimmig ergangenen, gutheissenden Urteilen der II. zivilrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts, hat die I. Abteilung eine weitere, analoge Beschwerde (BGE 1P.24/2004; Ehrverletzungsverfahren gegen den Arboner Rechtsanwalt Jürg Kugler) abgewiesen Damit hat sich die I. Abteilung in Widerspruch zur II. gesetzt. Verantwortlich hiefür sind die Bundesrichter (der I. Abteilung) Aemisegger, Rey, Aeschlimann, die seit Jahren aus politischen Gründen grundsätzlich und einstimmig gegen den VgT entscheiden. Im vorliegenden Fall wird als Begründung angeführt, das rechtliche Gehör müsse "nicht in jedem Fall" gewährleistet sein. In welchem Fall nicht, wird nicht gesagt und diese Behauptung steht im klaren Widerspruch zur II. Abteilung und zur Praxis des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Weiter wird in der Urteilsbegründung behauptet, es handle sich hier um ein Strafverfahren, in welchem sich Erwin Kessler als Privatkläger nicht auf Artikel 6 der EMRK berufen könne (aus der Urteilsbegründung BGE 1P.24/2004):

"Im Vorgehen des Obergerichtes, das der Beschwerdeführer beanstandet, kann zwar eine Verleztung des rechtlichen Gehörs liegen, muss aber nicht. Dies hängt ganz von den konkreten Umständen und den anwendbaren prozessualen Regelungen ab. Indem der Beschwerdeführer nicht darlegt, inwiefern das Obergericht im vorliegenden Fall zur Wahrung seines rechtlichen Gehörs verpflichtet gewesen wäre, ihm die Berufungsantwort vor Erlass des Urteils zur Stellungnahme zuzustellen, genügt es seiner Begründungspflicht nicht. Aus Art 6 EMRK kann er ohnehin nichts zu seinen Gunsten ableiten, da er im kantonalen Verfahren nicht Angeklagter, sondern Privatkläger war. Auf die Beschwerde ist nicht einzutreten."

Hier irren diese Bundesrichter ganz gewaltig: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) beurteilt autonom, dh unabhängig vom nationalen Recht, ob ein Verfahren als zivilrechtlich oder strafrechtlich zu werten ist. Ehrverletzungsverfahren rechnet der EGMR zu den zivilrechtlichen Verfahren. Tatsächlich werden Ehrverletzungsverfahren im Kanton TG auch nicht nach der Straf-, sondern nach der Zivilprozessordnung abgewickelt.

Die angeblich ungenügende Beschwerdebegründung war haargenau die gleiche, wie in den beiden gutgeheissenen Beschwerden. Es liegt ein Fall diskriminierender Verletzung des rechtlichen Gehörs vor. Erwin Kessler hat dieses Fehlurteil mit einer Menschenrechtsbeschwerde vor den EGMR gezogen. 


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