WELTWOCHE 43-04

Die Regel ist die Willkür

Von Urs Paul Engeler

Darf die SVP die Armee XXI anderthalb Jahre nach der Abstimmung in Frage stellen? Je nachdem. Der Umgang mit Volksentscheiden ist beliebig.

Einhundertundvierzehn Mal hat in den letzten zehn Jahren das Schweizervolk abgestimmt, hat dabei eine neue Bundesverfassung gutgeheissen, auch den Beitritt zur Uno oder die Aufhebung der Verbilligung von inländischem Brotgetreide aus Zolleinnahmen, hat das Elektrizitätsmarktgesetz (EMG) abgelehnt und die Bundeskompetenz zur Förderung der Kultur, hat am 18. Mai 2003 die Armee XXI mit 76 Prozent Ja akzeptiert.

Was sind diese 114 Entscheide wert? Sind sie unantastbar, wie die Apologeten der direkten Demokratie fordern? Oder gelten sie nur relativ, wie FDP-Bundesrat Couchepin meint, Sprecher der Vertreter der Obrigkeiten, wenn er vor der Macht des «verführbaren» Volkes warnt? Dürfen die Resultate von weisen Führern bei Bedarf unterlaufen werden? Sind sie von Zeit zu Zeit zu überprüfen und zu ändern? Es gibt kein Votum des Volkes zur Frage, wie mit den Ergebnissen von Urnengängen zu verfahren ist. Gemeinhin und im naiven Volksglauben herrscht die Meinung vor, dass sie nicht mehr zu hinterfragen, sondern zügig umzusetzen seien. Tatsächlich aber regiert die reine Willkür.

Am 20. Februar 1994 hiessen Volk und Stände die Alpen-Initiative gut und damit die zwei verbindlichen Forderungen, die seither in der Verfassung stehen: «Der alpenquerende Gütertransitverkehr von Grenze zu Grenze erfolgt auf der Schiene. [...] Die Verlagerung des Gütertransitverkehrs auf die Schiene muss zehn Jahre nach Annahme abgeschlossen sein.» Seit Ende Februar 2004 dürfte demnach kein einziger Brummer mehr die Schweiz durchfahren; in Wirklichkeit keuchen heute fast doppelt so viele Laster über die Alpen. Der Urnenentscheid blieb ein Haufen Buchstaben.

Wie die wiederholte Zustimmung zu den Finanz- und Bauentscheiden der Neat. Die gleichen Behörden, die dem Volk das Doppelröhren-System und dessen «gesicherte» Finanzierung schmackhaft gemacht haben, zuletzt im November 1998, sind derzeit daran, Bauprogramm, Kostenrahmen und Zahlungsmodi zum dritten Mal auf den Kopf zu stellen. Die Fakten und die realen Verhältnisse, so das Fazit, setzen Mehrheitsbeschlüsse jederzeit ausser Kraft.

Geschummel um die Schuldenbremse

Am 7. Juni 1998 stimmten Volk und Stände mit einem überwältigenden Mehr von 71 Prozent dem «Haushaltsziel 2001» zu und damit einem bindenden Verfassungsartikel, der den Rechnungsausgleich verlangte und das maximal zulässige Bundesdefizit für 2001 auf eine Milliarde Franken begrenzte. Real betrug der Fehlbetrag 2001 mehr als 1,3 Milliarden. «Haushaltsziel verfehlt», gestand der Bundesrat leise ein, folgenlos.

Am 2. Dezember 2001 doppelten Volk und Kantone mit einem 85-Prozent-Ja zur «Schuldenbremse» nach, womit «chronische Milliardendefizite und ein damit einhergehendes Schuldenwachstum» definitiv verunmöglicht wurden. Dachte die satte Mehrheit. Doch die folgenden Finanzrechnungen wiesen Defizite zwischen 2,8 und 3,3 Milliarden Franken aus; die Budgetzahlen 2003 und 2004 bewegen sich in ähnlich roten Zonen. Bundesrat und Parlament haben die Schuldenbremse, die sie selbst gewollt hatten, nicht beachtet und nachfolgend ausser Kraft gesetzt. Da aber kein Verfassungsgericht angerufen werden kann, gehen die Behörden mit Volksentscheiden locker bis autoritär um, dies die zweite Bilanz.

Am 12. Juni 1994 wurden an der Urne die erleichterte Einbürgerung für junge Ausländer sowie die Beteiligung schweizerischer Truppen bei friedenserhaltenden Operationen im Ausland abgelehnt. 1999 hat eine Mehrheit des Volkes die Mutterschaftsversicherung (MSV) verworfen, 2002 das Elektrizitätsmarktgesetz (EMG). Die Frage der Auslandseinsätze der Schweizer Armee wurde 2001 dem Volk wiederum vorgelegt, das dann knapp ja sagte. Mit ähnlicher Wirkung wurde das MSV-Nein kurzfristig in ein Ja umgearbeitet. Die zügigere Einbürgerung hingegen scheiterte im September 2004 abermals. Bundesrat und Parlament beschäftigen sich gegenwärtig intensiv mit der Revision des deutlichen Neins zum EMG. Es gibt, dies die dritte Erkenntnis aus dem knappen Abriss, keine Regel, welche Anstandsfrist Behörden und Parteien allenfalls einzuhalten hätten, um Urnenentscheide, die sie stören und ärgern, zu «korrigieren».

Es zählt allein das Ziel: Just jene Kreise, die derzeit die direkte Demokratie relativieren, erklären die Zustimmung zur Armee XXI für sakrosankt; und genau die SVP, die Plebiszite zu verabsolutieren pflegt, rüttelt bereits am Urnenentscheid von 2003. Ein Witz, wenn’s nicht Politik wäre. Entscheidend aber ist das Missverhältnis des Volksbeschlusses zur Wirklichkeit. Der gigantische militärische Gemischtwarenladen, der sich technologisch hochrüsten will für Auslandseinsätze und für eine engere Kooperation mit der Nato, der Hundertschaften von Personal vor ausländische Botschaften stellt, der nebenbei Verteidigung übt und mit Pistenstampfern die Basis für Skirennen legt, war nie ein Konzept und ist schlicht nicht finanzierbar.

Die Armee XXI wird somit entweder still nie realisiert (wie die Alpen-Initiative); oder sie muss revidiert werden (wie die Neat-Entscheide). Wobei Variante zwei ehrlicher und demokratischer ist.


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