Neue Zürcher Zeitung, 23.02.2006, Nr. 45, S. 15

Inland
Werden Hühner im Stall eher krank?
Debatte über die Auswirkungen der Stallpflicht


Mit dem seit Montag geltenden Auslaufverbot für Geflügel soll die Gefahr eines Vogelgrippeausbruchs in der Schweiz vermindert werden. Laut einem deutschen Nutztierethologen stellt die Stallpflicht aber ein Risiko für die Gesundheit der Freilandhühner dar.

öbi. Seit Montag gilt in der Schweiz wieder die Stallpflicht für Geflügel. In Anbetracht der Vogelgrippeausbrüche in den Nachbarländern erachtete der Bundesrat diese Massnahme als notwendig, um zu verhindern, dass Wildvögel das auch für den Menschen gefährliche Vogelgrippevirus vom Typ H5N1 in die Schweizer Geflügelpopulation tragen. Kagfreiland ist laut ihrem Geschäftsleiter Roman Weibel unglücklich über die Stallpflicht. Der Beschluss sei jedoch nachvollziehbar; zurzeit sei die Stallpflicht die einzige Massnahme, die das Schweizer Geflügel vor der Vogelgrippe schütze, erklärt Weibel.

Infektionsgefahr im Stall grösser?

Laut Weibel sind in der Schweiz rund eine Million Legehennen, eine halbe Million Mastpoulets sowie Zehntausende von Hühnern von Hobbygeflügelhaltern von der Stallpflicht betroffen. Tiere, die ein Leben im Freien gewohnt seien, hätten einen grossen Bewegungsdrang, erklärt Weibel. Im Stall hätten sie weniger Platz als im Freien, um sich zu bewegen. Quasi um überschüssige Energie loszuwerden, gingen die Tiere deshalb im Stall entweder auf die Inneneinrichtung los oder begännen, ihre Kollegen zu bepicken. Zum Grossteil hätten solche Verhaltensweisen während des Auslaufverbotes im vergangenen Herbst jedoch verhindert werden können, sagt Weibel. Dazu hätten die Bauern die Tiere zum Beispiel mit abwechslungsreichem Futter beschäftigen sowie vermehrt im Stall sein müssen, um bei Unruhe einschreiten zu können.
Grundsätzlich bedeute das Stallleben für die Freilandhühner immer eine Stresssituation, betont Weibel, und Stress schwäche das Immunsystem. Dieser Meinung ist auch Detlef Fölsch, Fachtierarzt und emeritierter Professor für Nutztierethologie und Tierhaltung des Fachbereichs Ökologische Agrarwissenschaften der Universität Kassel. Für ihn stellt die Stallhaltung für ans Freiland gewöhnte Hühner deshalb gar eine Gefahr dar. Im Stall sei zudem die Infektionsgefahr grösser als im Freien, erklärt Fölsch. Denn einerseits lebten die Hühner auf engstem Raum zusammen, anderseits trügen der Ammoniak und der Staub im Stall zu einem erhöhten Infektionsrisiko bei. Ausserdem seien die Tiere nicht direktem Tageslicht ausgesetzt, dessen UV- Strahlen Bakterien und Viren abtöten könnten. Und schliesslich spielt laut dem Fachtierarzt auch die Nahrung eine grosse Rolle. Im Freien pickten die Hühner nicht nur Pflanzenteile, Insekten und Regenwürmer auf, sondern auch Bakterien und Viren, was ebenfalls zu einer Stärkung des Immunsystems beitrage. All diese Faktoren führten dazu, dass Tiere, die draussen gehalten würden, widerstandsfähiger gegen Krankheiten seien, erklärt Fölsch. Laut Marcel Falk vom Bundesamt für Veterinärwesen (BVet) gibt es allerdings keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass im Freien gehaltene Tiere tatsächlich gesünder sind als solche, die im Stall leben.
Im speziellen Fall der Vogelgrippe müssten, so Weibel, der Nutzen und das Risiko der Stallhaltung gegeneinander abgewogen werden. Sperre man die Tiere ein, trete zwar die Geflügelpest nicht auf, dafür litten die Tiere häufiger an anderen, weniger gefährlichen Krankheiten. Laut Fölsch sind die Tiere im Stall aber gar nicht vor der Vogelgrippe geschützt. Denn das Virus könne auch mit Kleinsäugern wie Mäusen und Ratten sowie mit Insekten in den Stall gelangen, und auch das Futter (das auch von draussen komme) stelle eine Infektionsquelle dar. Zudem sei über die spezifische Pathogenität des Erregers noch zu wenig bekannt. Es sei nicht klar, ob die Vogelgrippe für Hühner tatsächlich immer tödlich ende.

Lernen, mit der Vogelgrippe zu leben

Obwohl Kagfreiland den Beschluss zur Stallpflicht akzeptiere, müsse über längerfristige Strategien nachgedacht werden, erklärt Weibel, denn die Vogelgrippe werde die Schweiz laut der WHO noch während Jahren beschäftigen. Dieser Meinung ist auch das BVet. Die Stallpflicht solle so kurz wie möglich dauern, denn die Freilandhaltung sei in der Schweiz sehr wichtig, sagt Falk. Das BVet erarbeite deshalb ein ständiges Frühwarnsystem bei Wildvögeln, um mögliche Ausbrüche der Vogelgrippe schnell vorhersagen und gezielte Massnahmen treffen zu können. Laut Kagfreiland sollte auch nochmals geprüft werden, ob in der Schweiz die Stallpflicht auch nur in Risikogebieten eingeführt werden könnte, etwa in einer Zone um die für Zugvögel wichtigen Seen. Falk erklärt jedoch, die Ausscheidung von Risikogebieten sei in der kleinräumigen Schweiz mit den vielen Seen zumindest zum heutigen Zeitpunkt nicht möglich. Erst müsse man lernen, wann es wo und bei welchen Tieren zu Vogelgrippeausbrüchen komme. Erst dann werde es vielleicht möglich, gefährdete Gebiete als Risikogebiete auszuscheiden.
Eine andere Möglichkeit wäre laut Weibel, die natürliche Widerstandskraft der Tiere zu fördern. Vielleicht gebe es ein Rassehuhn, das immun gegen die Vogelgrippe sei. Fölsch glaubt zwar nicht, dass eine Rasse völlig immun gegen das Virus ist, eine erhöhte Widerstandskraft könne bei einer Rasse jedoch durchaus vorkommen. Für den Nutztierethologen ist die wichtigste Massnahme im Kampf gegen die Vogelgrippe die Förderung artgemässer Geflügelhaltung. Die Tiere brauchten Sonnenlicht, einen Aussenklimabereich (eine Art Wintergarten) und eine ausgewogene, gesunde Ernährung - Faktoren, die das Immunsystem viel mehr stärkten als viele, oft unsachgemässe Impfungen, sagt Fölsch. Laut Falk sind diese Forderungen in der Schweiz erfüllt, zumindest in professionellen Haltungen. Die Tiere würden in einem Aussenklimabereich gehalten und seien so an der Frischluft und am Tageslicht. Letztlich, und da sind sich die Fachleute einig, müsse der Mensch einfach lernen, mit dem Vogelgrippevirus zu leben. **FOf Weiterer Bericht Seite 17

 

Dokumentation Vogelgrippe

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