22. September 2002
Die Medien und der Vertrauensverlust
Auszüge aus einer Rede von
Bundespräsident Kaspar Villiger am 13. September 2002
am Tag der Schweizer Presse in St. Moritz
Die Medien spielen eine wichtige Rolle. Sie können Vertrauen
bilden, sie können Vertrauen zerstören, und sie haben selber ein
Vertrauensproblem. In einer demokratischen Gesellschaft haben die Medien vier
ganz zentrale Funktionen:
1. Die Informationsfunktion. Nur informierte Bürgerinnen und Bürger können in
einer Demokratie verantwortungsvoll mitbestimmen, vor allem in einer direkten
Demokratie. Die Medien müssen jene Grundinformation und jene
Beurteilungselemente liefern, welche es den Bürgern erlauben, das Problem in
die grossen Zusammenhänge einzuordnen und schliesslich qualifiziert zu
entscheiden. Es gehört zur Medienverantwortung, die Information korrekt, aber
kundengerecht aufbereitet zu vermitteln.
2. Die Wahrheitsfunktion. Nur wo über freie Medien Ideen und Meinungen
miteinander in Konkurrenz treten können, hat die Wahrheit eine Chance, und nur
dort, wo ein Staat, ein Potentat oder gar ein Medienzar über das
Informationsmonopol verfügen, kann sich die Lüge halten. Deshalb ist die
Konkurrenz der Meinungen so wichtig. Wahrheitsfunktion und
Informationsfunktion sind die beiden grundlegenden Voraussetzungen jeder
Demokratie.
3. Die Wächterfunktion. Ich habe auf die Bedeutung des Vertrauens hingewiesen.
Vertrauen heisst aber nicht Vertrauensseligkeit. Kritische Medien sorgen
dafür, dass die Lust der Mächtigen, vom Pfad der Tugend abzuweichen,
entschieden gedämpft bleibt. Sie sind sozusagen Alarmanlagen gegen
Missbräuche. Dieses Wächteramt können nur Medien glaubwürdig wahrnehmen,
welche von den Machthabenden völlig unabhängig sind und keine Maulkörbe haben.
Deshalb wende ich mich dezidiert gegen jede irgendwie geforderte staatliche
Aufsicht, und sei es nur eine staatliche Qualitätskontrolle oder
Beschwerdeinstanz.
4. Die Forumsfunktion. Das Aufeinanderprallen kontroverser Meinungen, der
Wettbewerb zwischen Meinungen führt zu neuen Ideen, neuen Lösungsansätzen.
Dieser Wettbewerb fordert die dominierenden Meinungen heraus, stellt sie in
Frage. Die Medien sind das Forum, wo sich dieser Wettbewerb abspielt, der für
die stete Erneuerung der Demokratie unabdingbar ist. Mit ihren Kommentaren,
die von der Information klar abgegrenzt sein müssen, tragen sie selber zum
Meinungswettbewerb bei. (...)
Man darf wohl feststellen, dass die Schweizer Medien die erwähnten vier
Funktionen im Allgemeinen gut erfüllen. Dafür bin ich als Politiker dankbar,
auch wenn es gerade für Politiker nicht immer bequem ist. Aus zwei Richtungen
droht der korrekten Erfüllung der vier Funktionen Gefahr. Das Erste ist die
Versuchung, selber politische Macht auszuüben, etwa durch eine Kampagne einen
bestimmten Politiker wegzupushen. Das kann zur Verfälschung der Erfüllung der
vier Funktionen führen, wenn das ebenfalls Wahre ausgeblendet wird, sobald es
im Widerspruch zum Machtziel steht. Das Zweite ist der wirtschaftliche Zwang
zur Steigerung von Auflage und Einschaltquote. Dann kann es wohl zur
Versuchung kommen, von der korrekten Funktionserfüllung abzuweichen, kann das
Ziel, Aufmerksamkeit zu erregen, mit dem Wahrheitsziel in Konflikt geraten.
Ich darf einige Beispiele solcher Auswüchse aufzählen: Da werden, etwa unter
Nutzung gezielter, aber unvollständiger Indiskretionen, virtuelle Realitäten
konstruiert, um Stimmung für oder gegen etwas zu machen. Da werden harmlose
Ereignisse skandalisiert, um Misstrauen zu erzeugen. Da wird die
pflichtgemässe Vorbereitung zum «Geheimplan», normale kollegiale
Meinungsbildung zum «Konflikt». Informationen, welche den vermeintlichen
Skandal ins richtige Licht stellen könnten, werden ausgeblendet. Da werden
Kampagnen noch fortgesetzt, wenn Behauptungen von Fakten längst relativiert
oder widerlegt sind. Die Korrektur schiefer Bilder aus eigenem Antrieb ist
nicht gerade die Regel. Die Medienwissenschaft schliesst selbst ein Interesse
der Medien an möglichst langen Krisen nicht aus. Es hebt den Umsatz. Oder
«Rudeljournalismus»: Einer erfindet oder dramatisiert etwas, die andern
schreiben es unkontrolliert und unkritisch ab, die Scheinrealität wird
perpetuiert und in den Archiven zur his-torischen Realität. Übersteigerte
Zuspitzung begünstigt eine Misstrauenskultur. Das ist problematisch. Wird die
Misstrauenskultur gar zum Selbstzweck, kann sie zum Bumerang werden und
langfristig die Glaubwürdigkeit der Medien selber tangieren.
Ich habe auf die Bedeutung des Vertrauens in einem Staat und einer Wirtschaft
hingewiesen. Mit solchen Auswüchsen wird Misstrauen geschaffen, das sich
auswirken kann, obwohl es ungerechtfertigt ist. Wo hingegen die Medien durch
die Aufdeckung von echten Missständen gerechtfertigtes Misstrauen erzeugen,
ist das nicht nur nicht zu beanstanden, sondern erwünschter Ausfluss der
Kontrollfunktion. Dass es hier auch Grauzonen gibt, will ich gerne zugeben.
Die freie Wirtschaft wird von der Konkurrenz und von den Medien kontrolliert.
Die Politiker werden von den Wählern, der politischen Konkurrenz und den
Medien kontrolliert. Wer kontrolliert die Medien, wenn es - gemäss meiner
Überzeugung - nicht der Staat sein darf? Zuvorderst ist wieder die
Verantwortung zu nennen. Sie ist auch der Preis der Medienfreiheit. Sie wurde
offenbar nicht immer im nötigen Ausmass wahrgenommen. Die Journalisten mussten
dafür einen hohen Preis bezahlen. Ihre Glaubwürdigkeit ist beim Volk gemäss
Umfragen nicht sehr gross. Als Politiker könnte ich mich darüber freuen, weil
dann nicht alles, was man Böses über mich schreibt, auch geglaubt wird. Aber
es freut mich nicht, denn auch die Medien müssen in einer
Vertrauensgesellschaft Vertrauen geniessen, wenn sie ihre demokratische
Funktion erfüllen sollen.
Als Zweites sind die Medien aufgerufen, die Qualität gezielt zu fördern, etwa
durch qualitätsorientierte Aus- und Weiterbildung oder durch Anreize für
Qualitätsjournalismus. Und das Dritte sollte eigentlich selbstverständlich
sein: Über die Konkurrenz müssen sich die Medien gegenseitig selber
kontrollieren. Sie müssen Fehlleistungen gegenseitig ebenso kritisch würdigen,
wie sie das zu Recht bei den Politikern tun. Es gibt Studien, die zum Schluss
kommen, dass Journalisten sich selber gegenüber nicht immer den gleichen
kritischen Massstab anlegen. Das ist im Übrigen in anderen Berufsgruppen wohl
nicht anders. Aber wer den An-spruch aufs Wächteramt glaubwürdig erheben will,
darf nicht unterschiedliche Massstäbe anwenden. In einem kürzlichen Fall hat
diese Kritik gespielt. Aber ich werde den Eindruck nicht los, dass einige
Konkurrenten noch so gerne ihre Kollegen kritisierten und vielleicht froh
waren, dass ebenso berechtigte Kritik nicht sie traf.
Ich habe vorhin gesagt, dass unsere Journalisten grösstenteils
seriöse und gute Arbeit leisten und dass die Medien ihre Funktionen im
demokratischen Staat gut erfüllen. Aber auch hier gilt, was ich zur
allgemeinen Vertrauenskrise gesagt habe: Das Versagen weniger schlägt als
Vertrauensverlust auf alle zurück. Deshalb ist Arbeit am Vertrauen eine
ständige Aufgabe. (...) Ich habe vorher die Wahrnehmung der übergeordneten
Verantwortung als ethisch geboten bezeichnet. Man kann sie aber auch von
reinen Nützlichkeits-erwägungen herleiten. Es liegt im eigenen Interesse von
Politik, Wirtschaft und Medien, des «Vertrauens würdig» zu sein. Denn das
Vertrauen der Wähler, Kunden und Leser entscheidet langfristig über die
Akzeptanz unserer Produkte. Aber auch über die langfristige Stabilität von
Gesellschaft und Wirtschaft. Wir seien, habe ich behauptet, in einer
Vertrauenskrise. Machen wir uns also an die Arbeit, sie zu beheben!
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