Aus der WELTWOCHE vom 22. Januar 2004

 

Missbrauch der Tiere gesetzlich erlaubt
Steven M.Wise

Säuglinge und geistig schwerstbehinderte Menschen haben Grundrechte. Warum werden sie Delfinen, Menschenaffen und Graupapageien verweigert, die zu grösserer Autonomie fähig sind?
 

Jedes Jahr schlachten wir dreissig Milliarden nichtmenschliche Lebewesen zu Nahrungszwecken, bringen wir weitere Hunderte Millionen um oder missbrauchen sie auf andere Weise für biomedizinische Forschungen oder andere menschliche Zwecke: grosse und kleine, Schimpansen und Schweine, Säugetiere und Vögel, Wirbeltiere und Wirbellose.

Das tun wir schon sehr lange. Früher mag es vielleicht sinnvoll erschienen sein. Viele einflussreiche alte Griechen wie Aristoteles und die Stoiker sprachen allen nichtmenschlichen Lebewesen Vernunft, Intellekt, Gedanken und Glauben ab, manchmal sogar die Fähigkeit, wahrzunehmen, sich zu erinnern oder etwas zu erleben. Nichtmenschliche Lebewesen wurden fast wie Roboter betrachtet. Aber auch das ist sehr lange her. Unterdessen wissen wir, dass wir falsch lagen.

Die grossen Menschenaffen etwa verfügen über ein Bewusstsein, wahrscheinlich sogar ein Bewusstsein ihrer selbst, nehmen ihre Umgebung wahr, empfinden Schmerz, leiden. Sie handeln gezielt. Sie lösen Probleme scharfsinnig und verstehen Ursache und Wirkung. Sie können das, was andere sehen und wissen, geistig auf ähnliche Weise repräsentieren wie drei-, vielleicht sogar vierjährige Menschenkinder. Sie lernen Symbole, Wörter und Zahlen, verwenden Werkzeuge und stellen welche her. Manche verstehen Tausende Wörter. Werden sie von klein auf an Menschen gewöhnt, können sie gesprochene Sprache so gut verstehen wie ein dreijähriges Kind. Sie leben in unterschiedlichen Kulturen. Sie imitieren und kooperieren.

Die juristische Mauer

Schimpansen gedeihen in Gesellschaften, wo ein solches politisches Gerangel herrscht, dass sie als «machiavellistisch» bezeichnet werden. Die grossen Menschenaffen sind in dieser Beziehung nicht allein. Langzeitstudien an Delfinen, Graupapageien, Elefanten, Hunden und anderen nichtmenschlichen Lebewesen haben gezeigt, dass auch sie über viele dieser hoch entwickelten, komplexen kognitiven Fähigkeiten verfügen.

Doch heute gilt wie zu Aristoteles’ Zeiten jedes nichtmenschliche Lebewesen in juristischer Hinsicht als Ding, als Sklave ohne gesetzliche Rechte. Erst im 19. Jahrhundert wurde im Abendland die Sklaverei abgeschafft und jeder Mensch mit dem gesetzlichen Status einer Person ausgestattet, der bedeutet, dass diese Anspruch hat auf grundlegende gesetzliche Rechte.

Es gibt heute eine hohe juristische Mauer. Auf der einen Seite wohnen alle Angehörigen der Spezies Homo sapiens, die sich selbst unbegrenzte gesetzliche Rechte verliehen hat. Auf der anderen Seite sind die übrigen Lebewesen. Sie sind, juristisch gesehen, Dinge. (In der Schweiz seit 2003 nicht mehr.) Wegen ihres gesetzlichen Dingstatus dürfen ihre ursprünglichsten und fundamentalsten Interessen bewusst ignoriert, mit Füssen getreten und je nach menschlicher Lust und Laune missbraucht werden.

«Alle Gesetze», sagte ein römischer Jurist vor 1700 Jahren, «wurden um des Menschen willen geschaffen.» Warum auch nicht? Das Gleiche galt für alles andere. Die alten Griechen behaupteten, Pflanzen seien für Tiere da, Sklaven für ihre Besitzer, Pferde, um für uns zu arbeiten, und Schweine, um von uns geschlachtet zu werden. Diese Ansichten hatten durchaus etwas miteinander zu tun. Die Gläubigen hörten das Universum flüstern, es sei von Göttern für sie geplant worden. Doch die Welt, die den rechtlichen Dingstatus aller nichtmenschlichen Lebewesen hervorbrachte, ist nicht mehr unsere Welt. Wir wissen, dass das Universum, an das sie glaubten, ein erfundenes war, das zusammenbrach unter der Last der Beweise, welche eine Vorgehensweise lieferte, die sie noch kaum kannten: die wissenschaftliche. Heute ist die grosse Mehrheit der Wissenschaftler der Ansicht, das Universum sei nicht zum Nutzen des Menschen geplant worden, ja überhaupt nicht geplant.

Dennoch sind diese uralten Vorstellungen mit entscheidend dafür, dass am Dingstatus nichtmenschlicher Lebewesen festgehalten wird. Denn die Lehre, alle Gesetze seien zum Nutzen des Menschen geschaffen, die in der abendländischen Gesetzgebung impliziert war, wurde von Justinian in seinen ungeheuer einflussreichen Gesetzeskodex mit aufgenommen. Sie floss ein in die juristischen Schriften der grossen Anwälte, Richter und Kommentatoren des europäischen Zivilrechts und des ungeschriebenen englischen Gewohnheitsrechts und wurde fast uneingeschränkt übernommen von Englands amerikanischen Abkömmlingen. Auch wenn Philosophen und Wissenschaftler sie unterdessen auf den Kopf gestellt haben, in der Rechtsprechung ist das nicht geschehen.

Wenn grosse Menschenaffen, Delfine und andere nichtmenschliche Lebewesen solche grundlegenden gesetzlichen Rechte erhalten sollen – woher sollen sie die haben? Woher haben wir unsere? Der nigerianische Dramatiker Wole Soyinka schrieb, zu den besten Ideen der letzten tausend Jahre gehöre die, dass «gewisse fundamentale Rechte allen Menschen innewohnen». Soyinka glaubte, sie entsprängen der «Intuition». Doch «Menschenrechte» beruhen auf festerem Grund.

Es gibt zwei Arten grundlegender gesetzlicher Rechte: Freiheitsrechte, Rechte, die man wegen der Art, wie man zusammengebaut ist, hat, und Gleichheitsrechte, Rechte, die man hat, weil jemand Ähnliches sie hat. Beginnen wir mit den Freiheitsrechten. Die internationale Gesetzgebung und die Gesetze fast aller Nationen schützen zwei Arten von Freiheitsrechten, die so grundlegend sind, dass wir ohne sie kaum gedeihen könnten: körperliche Integrität und körperliche Freiheit. Autonomie ist mindestens ein hinreichender Grund für diese beiden Freiheitsrechte. Die Autonomie, die Richter respektieren, ist nicht zwangsläufig etwas Komplexes. Ein Wesen muss nur bei Bewusstsein sein, die Fähigkeit haben, zu begehren, gezielt zu handeln, und ein Gefühl für sich selbst, das es ihm ermöglicht, sein Leben wahrzunehmen.

Produkte nackter Voreingenommenheit

Viele nichtmenschliche Lebewesen verfügen über einen bemerkenswerten Geist. Doch für viele Menschen überwiegen die offensichtlichen Unterschiede die starken Ähnlichkeiten. Wir sollten uns Wesen vorstellen, deren Geist dem unseren noch ähnlicher ist. Früher brauchten wir uns dies nicht vorzustellen. Vielleicht 100000 Jahre lang lebten wir wahrscheinlich gleichzeitig wie der Homo erectus, dessen Hirn zwei Drittel so gross war wie das unsere, der ein guter Handwerker und Segler war und primitive Symbole verwandte, und wie der Neandertaler, dessen Hirn grösser war als das unsere, der kompliziertere Werkzeuge herstellte, eine rudimentäre Sprache sprach und komplexe Kulturen entwickelte.

Man stelle sich vor, morgen stiege eine robuste Horde Neandertaler aus den Bergen Andalusiens herab oder aus den Nebeln von Java tauchte ein Homo-erectus-Stamm auf, der dort seit 3000 Generationen isoliert gelebt hat. Würden wir diese Wesen fangen und zur Schau stellen, züchten und essen, sie für tödliche biomedizinische Forschungen verwenden, bloss weil sie nicht zur selben Spezies gehören wie wir selbst? Würden wir uns nicht dafür interessieren, wer sie sind?

Die grundlegenden Freiheitsrechte nichtmenschlicher Lebewesen sollten darauf beruhen, was für Wesen sie sind. Jedes Lebewesen, das ein Bewusstsein seiner selbst zu haben scheint, über manche oder gar alle Elemente einer Theorie des Geistes verfügt (weiss, was andere sehen oder wissen), Symbole versteht, eine differenzierte Sprache oder ein sprachartiges Kommunikationssystem benutzt, das zu täuschen, etwas vorzugaukeln, nachzuahmen und komplexe Probleme zu lösen vermag, ist dafür ein höchst aussichtsreicher Kandidat.

Die zweite Säule der abendländischen Rechtsprechung, Gleichheit, verlangt ebenfalls nach dem gesetzlichen Personenstatus für viele nichtmenschliche Wesen. Gleichheit verlangt, dass Gleiche gleich behandelt werden. Werden ohne guten und hinreichenden Grund Gleiche verschieden behandelt oder Ungleiche gleich, dann liegt ein Verstoss gegen die Gleichheit vor.

Manchen Menschen – Säuglingen, sehr kleinen Kindern, Babys, denen von Geburt an wichtige Hirnteile fehlen, geistig Schwerstbehinderten und solchen, die in einem vegetativen Zustand verharren – gewähren wir gesetzliche Grundrechte, obschon sie nicht autonom sind. Das findet meinen Beifall. Doch wenn Richter die Grundrechte dieser Menschen anerkennen, diese Rechte gleichzeitig nichtmenschlichen Lebewesen mit enorm viel grösserer Autonomie aber absprechen, dann handeln sie widersinnig und können ihre Entscheidungen als nichts anderes bezeichnet werden denn als Produkte nackter Voreingenommenheit. Es gibt einen Punkt, da wird die Disparität zwischen dem gesetzlichen Dingstatus eines geistig komplexen Menschenaffen oder Delfins etwa und dem gesetzlichen Personenstatus eines geistig schwerst Zurückgebliebenen oder eines ohne Hirn geborenen Babys vollkommen unhaltbar.

Es ist im Wesen jeder grossen Veränderung, grossen Widerstand hervorzurufen. Doch der anachronistische gesetzliche Dingstatus so vieler nichtmenschlicher Lebewesen lässt sich nicht verteidigen, wenn Gleichheit und Freiheit hochgehalten werden. All das hängt natürlich vom Wissen um die inneren Welten anderer Lebewesen ab, und wer sich je mit dem proteischen Wesen des Bewusstseins und des Geistes abgemüht hat, weiss, dass wir nicht einmal von anderen Menschen mit Sicherheit sagen können, dass sie über Bewusstsein verfügen. In manchen Fällen aber sind wir sicher, jedenfalls fast, oder so sicher, wie wir uns voneinander sind. Solchen Lebewesen gesetzliche Rechte zu verweigern, untergräbt letztlich unsere eigenen.

Aus dem Amerikanischen von Thomas Bodmer W 2003 by Steven M. Wise. Deutsche Rechte durch Paul & Peter Fritz AG, Literatur-Agentur, Zürich.

Steven M. Wise ist Rechtsanwalt und Vorkämpfer für Tierrechte in den Vereinigten Staaten. Von ihm erschienen folgende Bücher:

Rattling the Cage. Perseus Books, 2000
Drawing the Line. Perseus Books, 2002


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