I. Sachverhalt
A. Die «Weltwoche» veröffentlichte in ihrer Ausgabe vom 25.
November 2004 unter dem Titel «Der Schweine Hüter» einen Artikel von
Margrit Sprecher über den radikalen Tierschützer Erwin Kessler. Der
Untertitel lautete: «Wenn Tierschützer Erwin Kessler nicht gerade
vor Gericht steht, schleicht er nächtens in Ställe. Auf
Befreiungsmission mit einem Besessenen.»
B. In der Ausgabe der «Weltwoche» vom 16. Dezember 2004 erschien
unter dem Titel «Fragwürdige Methoden» daraufhin folgender
Leserbrief: «Der Artikel von Margrit Sprecher ist nicht wertend,
zeigt aber sehr gut den Ist-Zustand auf. Kesslers Engagement für den
Tierschutz ist lobenswert und in vielen Belangen auch wegweisend,
aber die Art und Weise, wie er zum Ziel kommen will, ist derart
fragwürdig, dass es viele Aktivisten und Aktivistinnen vorgezogen
haben, wieder den Weg des offenen, auf Kommunikation und Konsens
bedachten und zudem legalen Tierschutzes einzuschlagen und Herrn
Kessler die Gefolgschaft zu kündigen. Die geliebten Chüngelis von
ahnungslosen Kindern und Züchtern bei Nacht und Nebel zu befreien
und sie dann im Wald elendiglich zugrunde gehen zu lassen, ist wohl
eher Tierquälerei denn Tierschutz.»
C. Am 20. Dezember 2004 gelangte Erwin Kessler mit einer
Beschwerde an den Schweizer Presserat und rügte, die «Weltwoche»
habe mit dem Abdruck dieses Leserbriefs das Prinzip der Anhörung bei
schweren Vorwürfen (Richtlinie 3.8 zur «Erklärung der Pflichten und
Rechte der Journalistinnen und Journalisten») verletzt. Im
Leserbrief würden ihm «deliktische, tierquälerische Aktionen
vorgeworfen. Ich würde die geliebten Chüngelis? von Kindern bei
Nacht und Nebel? befreien und im Wald zugrunde gehen? lassen. Ich
erhielt keine Gelegenheit, zu diesen schweren, für einen prominenten
Tierschützer wie ich besonders kompromittierenden Anschuldigungen
Stellung zu nehmen.»
D. Mit Beschwerdeantwort vom 11. März 2005 beantragte der
Konzernanwalt der Jean Frey AG namens der Redaktion der «Weltwoche»,
auf die Beschwerde sei nicht einzutreten. Allenfalls sei die
Beschwerde abzuweisen. Der Beschwerdeführer habe es in Missachtung
von Art. 8 Abs. 3 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates
unterlassen, darauf hinzuweisen, dass er in Zusammenhang mit dem
Beschwerdegegenstand am 8. Januar 2005 ein gerichtliches Gesuch um
Gegendarstellung eingereicht habe. Materiell wies die «Weltwoche»
darauf hin, bereits der Artikel von Margrit Sprecher vom 25.
November 2004 habe folgenden Hinweis enthalten: «Überhaupt war das
eine schlimme Zeit damals, Mitte der neunziger Jahre. Es gab viele
Flops. Die befreiten Kaninchen hoppelten hilflos in den Wald, wo sie
entweder von Füchsen gefressen wurden oder an Herzanfällen starben.»
Der Beschwerdeführer habe diese Darstellung in keiner Weise
beanstandet. Stattdessen habe er lediglich gegen den Leserbrief
opponiert. Mit seiner von der «Weltwoche» verlangten formellen
Gegendarstellung zu diesem Leserbrief sei es ihm offensichtlich
nicht darum gegangen, sich gegen den Inhalt zur Wehr zu setzen,
sondern darum, die Leserbriefschreiberin zu diffamieren. Inhaltlich
erhebe der Leserbrief keine schweren Vorwürfe, sondern lediglich die
Wiederholung eines längst bekannten und in den Medien erschöpfend
dargestellten Sachverhaltes aus den 90er-Jahren.
E. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer
Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren
Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen
übereinstimmen oder von untergeordneter Bedeutung erscheinen,
abschliessend Stellung nehmen.
F. Am 23. März 2005 teilte der Presserat den Parteien mit, die
Beschwerde werde vom Presseratspräsidium, bestehend aus dem
Präsidenten Peter Studer sowie den Vizepräsidentinnen Sylvie Arsever
und Esther Diener-Morscher behandelt.
G. In einem Schreiben vom 26. März 2005 machte der
Beschwerdeführer in einer Stellungnahme zur Beschwerdeantwort der
«Weltwoche» geltend, er habe zwar «auf der VgT-Website über
Kaninchenbefreiungsaktionen berichtet und diese kommentiert. Diese
Befreiungsaktionen sind indessen weder vom VgT noch von mir selber
durchgeführt worden. Da dies im ÐWeltwoche?-Artikel auch nicht
behauptet wurde, konnte ich nichts dagegen unternehmen.»
Demgegenüber gehe der Leserbrief über die vage Aussage im
«Weltwoche-Artikel» hinaus und erhebe «darüber hinaus auch den für
eine Tierschutzorganisation schwerwiegenden Vorwurf der Tierquälerei
(...) Besonders perfid ist auch der Vorwurf, der VgT habe Kaninchen
Ðvon ahnungslosen Kindern? befreit.» Davon sei nichts bekannt, die
Aktionen hätten sich vielmehr gegen Massenkaninchenzüchter
(Fleischproduktion) gerichtet.
H. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per
25. November 2005 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. a) Nach Art. 15 Abs. 3 seines Geschäftsreglements tritt der
Presserat unter zwei kumulativen Voraussetzungen nicht auf eine
Beschwerde ein:
«Wenn er zum Schluss gelangt, dass
a. die manifeste Gefahr der Beeinflussung eines hängigen
Gerichtsverfahrens durch das Presseratsverfahren das Interesse der
Beschwerdeführerin / des Beschwerdeführers an einer Stellungnahme
des Presserates eindeutig überwiegt und b. wenn sich im Zusammenhang
mit der Beschwerde keine grundlegenden berufsethischen Fragen
stellen.»
b) Der Beschwerdeführer ruft mit der Richtlinie 3.8 zur
«Erklärung» (Anhörung bei schweren Vorwürfen) eine zentrale
berufsethische Bestimmung an, weshalb der Presserat schon allein aus
diesem Grund auf die Beschwerde eintritt. Der Presserat ergänzt,
dass er nicht für die Interpretation von Rechtsfragen zuständig ist,
mithin auch nicht für die Auslegung des Gegendarstellungsrechts
gemäss Art. 28g ff. ZGB (vgl. hierzu die Stellungnahme 19/2000).
Folglich besteht kein direkter Zusammenhang zwischen dem
vorliegenden Beschwerdeverfahren und der vom Beschwerdeführer erst
nach Einreichung der Presseratsbeschwerde eingeleiteten
gerichtlichen Klage zur Durchsetzung einer Gegendarstellung. Zudem
weiss der Presserat nicht, ob dieses Gerichtsverfahren zum Zeitpunkt
der Verabschiedung der vorliegenden Stellungnahme überhaupt noch
hängig ist. Der Beschwerdeführer hat dem Presserat anfang Mai 2005
unaufgefordert den erstinstanzlichen Gerichtsentscheid zugestellt.
Ob dieser von einer der Parteien oder beiden weitergezogen wurde
oder zwischenzeitlich in Rechtskraft erwuchs, ist dem Presserat
nicht bekannt.
2. a) Die Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» lautet: «Aus dem
Fairnessprinzip und dem ethischen Gebot der Anhörung beider Seiten
(Ðaudiatur et altera pars?) leitet sich die Pflicht der
Journalistinnen und Journalisten ab, Betroffene vor der Publikation
schwerer Vorwürfe anzuhören. Deren Stellungnahme ist im gleichen
Medienbericht kurz und fair wiederzugeben. Ausnahmsweise kann auf
die Anhörung verzichtet werden, wenn dies durch ein überwiegendes
öffentliches Interesse gerechtfertigt ist. Der von schweren
Vorwürfen betroffenen Partei muss nicht derselbe Umfang im Bericht
zugestanden werden wie der Kritik. Aber die Betroffenen sollen sich
zu den schweren Vorwürfen äussern können.»
b) Für die Beurteilung der Beschwerde von Erwin Kessler stellen
sich neben dem Aspekt, ob im von der «Weltwoche» am 16. Dezember
2004 veröffentlichten Leserbrief überhaupt schwere Vorwürfe erhoben
worden sind, drei berufsethisch interessante Fragen: 1. Ist die
Richtlinie 3.8 auch anwendbar, wenn schwere Vorwürfe in Leserbriefen
erhoben werden? 2. Gilt die Anhörungspflicht auch für schwere
Vorwürfe, die vor mehreren Jahren bereits Gegenstand der
Medienberichterstattung waren? 3. Ist ein Verzicht des Betroffenen
auf die Anhörung zu einem schweren Vorwurf anzunehmen, wenn er bei
einer vorherigen Veröffentlichung des gleichen Vorwurfs im gleichen
Medium nicht protestiert hat?
c) Die berufsethischen Regeln gelten für sämtliche Texte, für die
die Redaktion verantwortlich zeichnet. Die Richtlinie 5.2 zur
«Erklärung» statuiert denn auch ausdrücklich, dass die
berufsethischen Normen auch für die Leserinnen- und Leserbriefe
gelten. Allerdings ist der Prüfmassstab hier insofern gelockert, als
die «Leserbriefredaktion nur bei offensichtlichen Verletzungen der
ÐErklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und
Journalisten? einzugreifen hat».
Dementsprechend ist in Bezug auf den umstrittenen Leserbrief zu
prüfen, ob dieser offenkundig schwere Vorwürfe an Erwin Kessler
erhebt. Nach Auffassung des Presserats trifft dies auf den Vorwurf
zu, Kessler scheue sich als radikaler Tierschützer nicht, auch die
«geliebten Chüngelis von ahnungslosen Kindern» zu befreien und dabei
mit tierquälerischen und illegalen Methoden vorzugehen. Denn
insbesondere der Vorwurf der Tierquälerei wiegt bei einem
Tierschützer besonders schwer.
d) Ebensowenig kann eine frühere Berichterstattung über die
gleichen Vorwürfe bei einer erneuten Berichterstattung generell von
einer Anhörung entbinden. Eine Ausnahme wäre höchstens dann zu
machen, wenn dieser Vorwurf (sowie die zugehörige Stellungnahme des
Beschwerdeführers) bei der Leserschaft der «Weltwoche» als allgemein
bekannt vorausgesetzt werden könnte. Dies ist bei einer von der
«Weltwoche» geltend gemachten länger zurückliegenden
Berichterstattung aus den 90er-Jahren - ausser in den Reihen
überzeugter Tierschützer - in der Regel nicht anzunehmen. Überdies
bestreitet der Beschwerdeführer, dass der konkrete Vorwurf, der VgT
habe Kaninchen befreit, vor dem umstrittenen Leserbrief bereits
einmal ein Thema in den Medien gewesen sei.
e) Die «Weltwoche» wirft Erwin Kessler weiter widersprüchliches
Verhalten und Missbrauch des Presseratsverfahrens vor, wenn er sich
nun aus persönlichen Motiven gegen einen Vorwurf einer ihm
missliebigen früheren Mitstreiterin wende. Sie begründet dies
einerseits mit dem Inhalt des Gegendarstellungsbegehrens des
Beschwerdeführers, das die Leserbriefschreiberin diffamiere.
Anderseits argumentiert sie, Erwin Kessler habe den wenige Woche
zuvor veröffentlichten Artikel von Margrit Sprecher nicht
beanstandet, obwohl dieser den gleichen Vorwurf enthalten habe. Auch
wenn diese Kritik der «Weltwoche» - jedenfalls ausgehend von den dem
Presserat bekannten Fakten - nicht gänzlich von der Hand zu weisen
ist, kann sie für die vom Presserat zu bewertende Frage einer
Verletzung der Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» nicht entscheidend
sein. Denn der Presserat hat nicht die (nachträglichen) Motive des
Beschwerdeführers, sondern einzig das berufsethische Verhalten der
Redaktion beim Abdruck des umstrittenen Leserbriefs zu beurteilen.
Und wie oben ausgeführt (2. d), ist der davon Betroffene bei jeder
Veröffentlichung erneut anzuhören oder zumindest seine frühere
Stellungnahme erneut kurz wiederzugeben - ausser seine Position ist
aktuell bekannt. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn wie
vorliegend die im Leserbrief erhobenen Vorwürfe wesentlich
expliziter formuliert und gegen den Beschwerdeführer gerichtet sind
als der im zuvor erschienenen Artikel von Margrit Sprecher doch
bloss allgemein gehaltene Satz «Die befreiten Kaninchen hoppelten
hilflos in den Wald, wo sie entweder von Füchsen gefressen wurden
oder an Herzanfällen starben».
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.
2. Da der von der «Weltwoche» am 16. Dezember 2004
veröfffentlichte Leserbrief «Fragwürdige Methoden» offenkundig
schwere Vorwürfe gegen den radikalen Tierschützer Erwin Kessler
erhob, hätte dieser vor der Publikation angehört werden müssen
(Richtlinie 3.8 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der
Journalistinnen und Journalisten»).
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