3. Mai 2005
Wegweisender Bundesgerichtsentscheid:
Weide-Rinder brauchen Schutz vor extremer
Witterung
Mit Entscheid vom 31. März 2005 hat das Bundesgericht
eine Verfügung des Thurgauer Veterinäramtes geschützt, mit welcher von einem
Mutterkuhhalter einen Schutz gegen extreme Witterung (Hitze) verlangt wurde.
Der Tierhalter hatte geltend gemacht, er halte eine besonders robuste
Rinderrasse und es habe keine Indizien für Hitzestress gegeben. Mit diesen
Argumenten drang er nicht durch.
Die Praxis vieler Landwirte in den vergangenen Jahren
und Jahrzehnte, die Landschaft durch Beseitigung von Bäumen und Hecken
auszuräumen und zu veröden, rächt sich nun. Mutterkuhhalter werden nun
gezwungen, künstliche Unterstände einzurichten.
Auszug aus diesem wegweisenden Entscheid (2A.532/2004):
2.
2.1 Der Beschwerdeführer hat seine Mutterkuhherde mit den Kälbern
unbestrittenermassen während 24 Stunden pro Tag auf einer Weide gehalten,
die weder über einen natürlichen noch einen künstlichen Witterungsschutz für
die Tiere verfügte. Die Vorinstanzen verlangten vom Beschwerdeführer,
seinen Tieren einen "tierschutzkonformen Witterungsschutz" bzw. bei
extremer Witterung einen Witterungsschutz anzubieten. Der
Beschwerdeführer stellt die Notwendigkeit eines solchen Schutzes für
seine Tiere in Abrede.
2.2 Nach Art. 2 TSchG sind Tiere so zu behandeln, dass ihren Bedürfnissen in
bestmöglicher Weise Rechnung getragen wird (Abs. 1). Wer mit Tieren umgeht,
hat, soweit es der Verwendungszweck zulässt, für deren Wohlbefinden zu
sorgen Abs. 2). Die Behörde schreitet nach Art. 25 Abs. 1 TSchG
unverzüglich ein, wenn feststeht, dass Tiere stark vernachlässigt oder
völlig unrichtig gehalten werden. Sie kann die Tiere vorsorglich
beschlagnahmen und sie auf Kosten des Halters an einem geeigneten Ort
unterbringen; wenn nötig lässt sie die Tiere verkaufen oder töten. Sie kann
dafür die Hilfe der Polizeiorgane in Anspruch nehmen.
Die Behörde darf nicht erst im Zeitpunkt des gesicherten Feststehens von
Missständen tätig werden. Vielmehr muss sie bereits beim Vorliegen
begründeter Verdachtsmomente einschreiten und für die nötigen Abklärungen
besorgt sein (Urteil 2A.618/2002 vom 12. Juni 2003, E. 2, publ. in TVR 2002
Nr. 20; Antoine F. Goetschel, Kommentar zum Eidgenössischen
Tierschutzgesetz,
Bern/Stuttgart 1986, Art. 25 N. 2). Eine "völlig unrichtige" Haltung im
Sinne von Art. 25 TSchG liegt vor, wenn die Verstösse gegen die
Tierhaltungsgrundsätze das Wohlbefinden eines Tieres erheblich
beeinträchtigen (Goetschel, a.a.O., Art. 25 N. 4). Was eine tiergerechte und
angemessene Haltung ist, wird in Art. 3 TSchG umschrieben. Demnach muss, wer
ein Tier hält oder betreut, es angemessen nähren, pflegen und ihm soweit
nötig Unterkunft gewähren (Art. 3 Abs. 1 TSchG). Tiere sind so zu halten,
dass ihre Körperfunktionen und ihr Verhalten nicht gestört werden und ihre
Anpassungsfähigkeit nicht überfordert wird (Art. 1 Abs. 1 der
Tierschutzverordnung vom 27. Mai 1981, TSchV; SR 455.1). Fütterung, Pflege
und Unterkunft sind angemessen, wenn sie nach dem Stand der Erfahrung und
den Erkenntnissen der Physiologie, Verhaltenskunde (Ethologie) und Hygiene
den Bedürfnissen der Tiere entsprechen (Art. 1 Abs. 2 TSchV). Der Tierhalter
muss das Befinden der Tiere sowie die Einrichtungen genügend oft überprüfen.
Er muss Mängel an den Einrichtungen, die das Befinden der Tiere
beeinträchtigen, unverzüglich beheben oder aber andere geeignete Massnahmen
zum Schutz der Tiere treffen (Art. 3 Abs. 2 TSchV). Für Tiere, die sich den
klimatischen Verhältnissen nicht anpassen können, muss der Tierhalter für
Unterkunft sorgen (Art. 4 Abs. 1 TSchV). Gehege, in denen sich Tiere
dauernd oder überwiegend aufhalten, müssen so gross und so gestaltet
sein, dass die Tiere sich artgemäss bewegen können. Die Gehege und
deren Böden müssen so beschaffen sein, dass die Gesundheit der Tiere
nicht beeinträchtigt wird (Art. 5 Abs. 3 TSchV).
3.
3.1 Der Beschwerdeführer stellt die Notwendigkeit des angeordneten
Witterungsschutzes für seine Tiere in Abrede, indem er im Wesentlichen auf
die Widerstandsfähigkeit der Tiere und den auf der Weide herrschenden
Luftzug hinweist. Es sei nicht nachgewiesen, dass die Tiere in ihrem
Wohlbefinden erheblich beeinträchtigt gewesen seien.
3.2 Bei der umstrittenen Anordnung
des Departements handelt es sich entgegen der Auffassung des
Beschwerdeführers nicht um eine generell abstrakte Anordnung ohne
rechtliche Grundlage. Allerdings stellt die in der angefochtenen
Verfügung genannte Information des Bundesamtes für Veterinärwesen vom 1.
Dezember 2003 (Information 800.106.18 "Anforderungen an die dauernde Haltung
von Nutztieren [Rindvieh, Schafe, Ziegen, Pferdeartige, Schweine] im
Freien: Witterungsschutz und Betreuung") für sich allein noch keine
genügende gesetzliche Grundlage dar (vgl. BGE 130 I 65 E. 3.3 S. 68).
Das Verwaltungsgericht hat Art. 25 TSchG als Rechtsgrundlage für die
Verfügung ausdrücklich nicht geprüft, weil die Tiere weder beschlagnahmt
noch vorsorglich an einem andern geeigneten Ort untergebracht worden seien.
Dabei hat es übersehen, dass Art. 25 Abs. 1
TSchG auch die Grundlage für die Anordnung weniger weit reichender
Massnahmen bildet. Soweit sich die angefochtene Anweisung auf Art. 25
Abs. 1 TSchG stützen kann, wird die mangelhaft begründete Verfügung des
Verwaltungsgerichts insofern im bundesgerichtlichen Verfahren geheilt
(vgl. BGE 129 I 361 E. 2.1 S. 363 f. mit Hinweisen; Thomas
Merkli/Arthur Aeschlimann/Ruth Herzog, Kommentar zum Gesetz über die
Verwaltungsrechtspflege im Kanton Bern, Bern 1997, N. 5 ff. zu Art. 52
VRPG/BE), zumal sich der Beschwerdeführer in seiner Beschwerdeschrift
ausführlich dazu geäussert hat.
3.3 Tiergerecht und angemessen ist die Haltung, wenn sie nach dem Stand der
Erfahrung und den Erkenntnissen der Physiologie, Verhaltenskunde (Ethologie)
und Hygiene den Bedürfnissen der Tiere entspricht (vgl. Art. 3 TSchG, Art. 1
Abs. 2 TSchV). Um diesen Stand der Erfahrung und der Erkenntnisse im Sommer
2003 zu bestimmen, durfte das Verwaltungsgericht zwar nicht direkt auf die
genannte Information 800.106.18 des Bundesamtes für Veterinärwesen
abstellen, da sich diese im Sommer noch in der Vernehmlassung befand. Diese
Informationsbroschüre kann aber als Hinweis auf den zur Zeit der
Vernehmlassung geltenden Stand dienen: So sei vorzusorgen, dass die Tiere
jederzeit vor extremer Witterung Schutz suchen könnten, wenn sie diesen
aufgrund der klimatischen Bedingungen und ihres physiologischen Zustands
benötigten. Derartige Situationen, die Schutz vor extremer Witterung
erforderten, würden nachweislich auch bei so genannten robusten Rassen
auftreten. Nach dem von Prof. Dr. H.-H. Sambraus bearbeiteten Merkblatt Nr.
85 der deutschen tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz (Stand:
August 2001; S. 8 Ziff. 4.2) suchten Rinder bei ungünstigen
Wetterbedingungen, insbesondere bei intensiver Sonneneinstrahlung, einen
Witterungsschutz auf. Dieses Verhalten diene der Bedarfsdeckung und
Schadensvermeidung im Rahmen einer ethologischen Thermoregulation. Nach
diesem Merkblatt erfordert die ganzjährige Weidehaltung von Rindern
ausnahmslos einen Witterungsschutz. Wärmebelastungen, die die
körpereigenen Temperaturregulationsmechanismen überfordern, müssten
vermieden werden. Die Berner Tierschutzfachstelle weist in ihrem Merkblatt
vom April 2000 darauf hin, dass bei Robustrindern die Anpassungsbreite bei
höheren Temperaturen deutlich niedriger ist als bei tieferen Temperaturen.
Das Bundesamt für Veterinärwesen hält in seiner Stellungnahme vom 5. August
2003 fest, dass bei einer relativen Luftfeuchtigkeit von 70%, wie sie an
einem heissen und trockenen Sommertag üblich sei, der Hitzestress für
Milchkühe bei ca. 24°C Lufttemperatur im Schatten beginne. Bei 29°C im
Schatten werde bereits ein deutlich belastender Zustand erreicht. Ab 35.5°C
bestehe sehr starker Hitzestress mit akuter Lebensgefahr. Für Kühe und
Kälber in Mutterkuhhaltung seien diese Temperaturangaben mit kleinen
Anpassungen nach oben anwendbar. Bei der direkten Sonneneinstrahlung
ausgesetzten Tieren seien die Temperaturgrenzen deutlich tiefer anzusetzen.
Steige die Luftfeuchtigkeit, beginne der Hitzestress bereits bei tieferen
Temperaturen. Bis zu einem gewissen Grad könne Luftbewegung die
Hitzebelastung der Tiere mindern. Es gebe keine Hinweise, dass die
Aberdeen-Angus-Rasse hitzeresistenter sei als andere Bos taurus-Rassen
(europäische Rinder), was aufgrund der klimatischen Bedingungen im
Herkunftsland der Angusrinder (Schottland) auch nicht zu erwarten sei. Die
schwarze Farbe der Angus-Tiere sei in Bezug auf die Wärmeabsorption sogar
deutlich ungünstig zu bewerten.
..
3.5 Die auf einen Organismus einwirkende Hitzebelastung, die ein Produkt von
Lufttemperatur, Luftfeuchtigkeit, Luftbewegung und Stärke der
Sonneneinstrahlung ist (vgl. die Stellungnahme des Bundesamtes für
Veterinärwesen vom 5. August 2003), kann durch einen natürlichen oder
künstlichen Witterungsschutz reduziert werden. Aufgrund der vorgenannten
Daten und der konkreten Umstände hätte der Beschwerdeführer seinen Tieren
einen Witterungsschutz anbieten müssen: Sie wurden während der fraglichen -
z.T. sehr heissen - Sommertage ununterbrochen auf einer schattenlosen Weide
gehalten. Die Annahme ist daher zulässig, sie seien wiederholtem Hitzestress
ausgesetzt gewesen. Was der Beschwerdeführer bezüglich der angeblichen
Widerstands- und Anpassungsfähigkeit der Aberdeen-Angus-Rasse sowie der
behaupteten wesentlichen Temperaturreduktion durch die Windexposition der
Weide vorbringt, überzeugt dagegen nicht. Das Verwaltungsgericht hat deshalb
in für das Bundesgericht nach Art. 105 Abs. 2 OG verbindlicher Weise
sinngemäss festgestellt, dass die Tiere des Beschwerdeführers
zumindest zeitweise in ihrem Wohlbefinden erheblich beeinträchtigt waren.
3.6 Der von der Vorinstanz geforderte Witterungsschutz soll die in Bezug auf
die Wärmeabsorption ungünstig gefärbten schwarzen Rinder sowohl vor hohen
Temperaturen als auch vor starker Sonneneinstrahlung schützen. Indem der
Beschwerdeführer seine Tiere bei den genannten hohen Temperaturen auf einer
Weide ohne Witterungsschutz beliess, hat er sie nicht tiergerecht gehalten,
weil er ihnen das Aufsuchen von Schatten als Schutz vor grosser Hitze und
direkter Sonneneinstrahlung verunmöglichte (vgl. Art. 3 Abs. 2, Art. 4 Abs.
1, Art. 5 Abs. 3 TSchV). Der Beschwerdeführer verletzte somit auch seine
Pflicht nach Art. 3 Abs. 2 TSchV, Mängel an den Einrichtungen, die das
Befinden der Tiere beeinträchtigen, unverzüglich zu beheben oder andere
geeignete Schutzmassnahmen zu treffen.
3.7 Schliesslich ist auch der Vergleich mit den Alpweiden unbehelflich. Aus
dem Kommentar von Goetschel (a.a.O., Art. 3 N. 7) kann nicht geschlossen
werden, Sömmerungstiere auf Alpweiden brauchten überhaupt keinen
Witterungsschutz. Vielmehr kann in diesen Fällen allenfalls auf eine
Unterkunft im Sinne von Art. 3 Abs. 1 TSchG verzichtet werden. Zur Verfügung
steht den Tieren dann aber der natürliche Witterungsschutz (Felsvorsprünge,
Sträucher, Mulden etc.). Es fehlt vorliegend sowohl der Nachweis, dass die
Verhältnisse auf der Weide des Beschwerdeführers mit denen auf Alpweiden
vergleichbar sind, als auch der Nachweis, dass bei Alpweiden
tierschutzkonform auf vollständigen Witterungsschutz verzichtet werden kann.
Zudem ist es in höheren Lagen erfahrungsgemäss weniger heiss.
3.8 .. Aufgrund der für das Bundesgericht verbindlichen
Sachverhaltsfeststellungen (Art. 105 Abs. 2 OG) und der Akten ist
offensichtlich, dass die Tiere des Beschwerdeführers auf der fraglichen
Weide ohne jeglichen Witterungsschutz im heissen Sommer 2003 völlig
unrichtig gehalten wurden. Das Verwaltungsgericht bzw. das Veterinäramt
durfte unter den gegebenen Umständen darauf verzichten, die
Hitzestress-Indikatoren bei den einzelnen Herdentieren individuell zu
überprüfen. Umgekehrt kann aus der Abwesenheit eines einzelnen Indikators zu
einem bestimmten Zeitpunkt - das Fehlen eines schweiss-nassen Fells - nicht
geschlossen werden, die Tiere würden eine beliebig grosse Hitze stressfrei
überstehen. Die vom Verwaltungsgericht geschützte Auflage an den
Beschwerdeführer kann sich auf Art. 25 Abs. 1 TSchG abstützen. Dabei belässt
die auferlegte Verpflichtung, den Tieren bei extremer Witterung einen
Witterungsschutz anzubieten, dem Beschwerdeführer die freie Wahl der
Mittel (mobiler Schutz mit Zelt oder Wagen, feste Installation,
langfristig natürlicher Schutz durch Bepflanzung, Ausweichen auf eine
andere Weide etc.). Die gemachte Auflage ist so Ausdruck richtig
verstandener Verhältnismässigkeit und insoweit nicht zu beanstanden.
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