4. Oktober 2007
Zum Welttierschutztag:
Tier-Mensch-Vergleich
von Erwin Kessler, Präsident Verein gegen Tierfabriken Schweiz
Im Mai 2006 veranlasste ein Genfer Untersuchungsrichter eine
Hausdurchsuchung des Redaktionsbüros des VgT und die Beschlagnahmung der
aktuellen Ausgabe der VgT-Zeitschrift. Allerdings war zu diesem
Zeitpunkt nur noch ein Archivexemplar vorrätig, alle anderen 350 000
Exemplare dieser Ausgabe waren bereits versandt. Grund für diese
Zwangsmassnahme war die Bezeichnung der katastrophalen Zustände in
Hühnerfabriken als Tier-KZ sowie der Vergleich zwischen KZ-Folterungen
und der Folterung von Tieren zur Herstellung von Pelzmänteln. Hinter
diesem Missbrauch der Staatsgewalt gegen Medien steht die immer noch
verbreitete Meinung, der Vergleich des Leidens von Tieren mit dem Leiden
von Menschen sei grundsätzlich unzulässig.
Diese Tabuisierung des Mensch-Tier-Vergleiches hat seine psychologischen
Wurzeln im verdrängten schlechten Gewissen der grossen Mehrheit dieser
Gesellschaft, insbesondere auch der Machthabenden, die sich an der
grausamen Ausbeutung der Nutztiere durch ihr Konsumverhalten beteiligen.
Die Pharma- und Medizinal-Industrie dagegen geht von einer derart
weitgehenden Ähnlichkeit zwischen Tier und Mensch aus, dass die an
Mäusen, Katzen, Hunden etc getestete Giftigkeit von Chemikalien und die
Wirksamkeit und die Nebenwirkungen von neuen Medikamenten auf den
Menschen übertragen werden könnten. Obwohl sich in dieser Hinsicht immer
wieder verhängnisvolle Unterschiede zwischen Menschen und Versuchstieren
ergeben, wird an diesem Glauben festgehalten. Diese Gleichsetzung von
Mensch und Tier empfinden die Machthabenden ebensowenig anstössig wie
die Grausamkeit der Tierversuche. Wenn es aber um das Leiden der
Versuchstiere geht, wird die Ähnlichkeit zum Säugetier Mensch aber
völlig ausgeblendet - ein schizophrenes Denken, eine moralische
Heuchelei.
Diese zwiespältige Moral kann nicht damit erklärt werden, bei den
Tierversuchen gehe es nur um die biologische Ähnlichkeit, denn dies
trifft zum Beispiel bei Tierversuchen mit Antidepressiva und anderen
Psychopharmaka offensichtlich nicht zu.
Wie weit - je nach Fragestellung - Menschen und Tiere ähnlich sind, ist
diskutabel. Undiskutabel klar istjedenfalls, dass nach dem heutigen
Stand der Biologie, der (Tier-)Psychologie und der Ethik der Mythos der
absoluten Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit des Menschen mit
anderen höheren Säugetieren unhaltbar ist. Im Gegenteil besteht
hinsichtlich der in Tierschutzfragen besonders interessierenden
Leidensfähigkeit eine sehr weitgehende Analogie, was kein seelisch
gesunder Mensch bestreiten kann, der zum Beispiel einen Hund wirklich
kennengelernt hat. Die biologischen Tatsachen (Nervensystem) und die
Tierpsychologie lassen keinen anderen Schluss zu als der, dass höhere
Säugetiere Menschen sehr ähnlich sind, wenn es um Schmerzen, Leiden und
Angst geht. Der berühmt Verhaltensforscher Konrad Lorenz hat dies so
formuliert: "Ein Mensch, der ein höheres Säugetier wirklich genau kennt
und nicht davon überzeugt wird, dass dieses Wesen ähnliches erlebt wie
er selbst, ist psychisch abnorm und gehört in die psychiatrische Klinik,
da eine Schwäche der Du-Evidenz ihn zu einem gemeingefährlichen Monstrum
macht." (aus: Spiegel 1988/Nr 47, Seite 254)
Der Begriff Du-Evidenz wird im Lexikon der Tierschutzethik von Gotthard
Teutsch wie folgt erklärt:
"Die Du-Evidenz bedeutet, dass einem Lebewesen ein zunächst beliebiges
anderes Lebewesen durch intensive Begegnung zum individuellen,
unverwechselbaren und insofern auch unersetzlichen Partner wird.
Du-Evidenz ist sowohl gegenseitig wie auch einseitig möglich und setzt
keine rational verarbeitete Wahrnehmung des anderen voraus, sondern
beruht auf Erleben und Emotion, also Möglichkeiten und Fähigkeiten, die
schon beim Kleinkind und beim Säugetier gegeben sind. Auf der gleichen
Basis der Emotionalität beruht das der Du-Evidenz notwendigerweise
komplementäre Ich-Bewusstsein, das aus dem Erleben und Erfahren eines
"Du" notwendigerweise entsteht. Die Ich-Du-Beziehung zwischen Mensch und
Tier wird gelegentlich auch von der Philosophie aufgegriffen. Jedenfalls
hat Martin Buber im Nachwort von 1957 zu seinem Buch "Ich und Du"
intuitiv eine wichtige Spur gefunden: "Wenn wir nicht bloss zu anderen
Menschen, sondern auch zu Wesen und Dingen, die uns in der Natur
entgegentreten, im Ich-Du-Verhältnis stehen können, was ist es, das den
eigentlichen Unterschied zwischen jenen und diesen ausmacht?..."
Eine ausserordentlich weitgehende, geradezu verblüffende Ähnlichkeit im
ganzen Wesen (Verhalten, Empfinden) besteht zwischen Kleinkindern und
höheren Säugetieren.
Bei gleicher Leidensfähigkeit gibt es keinen rationalen Grund, das
Leiden von Tieren geringer zu bewerten als das Leiden von Menschen, zB
Kleinkindern oder geistig Behinderten. Für viele Menschen ist diese
Feststellung heute noch schockierend. So kommt es denn immer wieder zu
aufgebrachten Demonstrationen, wenn der australische Philosoph Peter
Singer irgendwo als Redner auftritt. Singer hatte vor einem
Vierteljahrhundert in seinem Bestseller "Befreiung der der Tiere" aus
der Gleichheit der Leidensfähigkeit eine konsequente
Tierrechtsphilosophie abgeleitet. Danach verlangt die gleiche
Leidensfähigkeit auch den gleichen Schutz vor Leiden. Kleinkinder und
Tiere müssten demnach gleichermassen vor Schmerzen, Angst und Leiden im
weiteren Sinne geschützt werden, was natürlich krass mit dem heutigen
Umgang mit Nutz- und Versuchstieren kontrastiert. Dementsprechend wird
Singer massiv angefeindet von allen, die am Status quo ein Interesse
haben. Da Singers Argumente sachlich nicht widerlegt werden können, wird
er absichtlich missverstanden, durch Verdrehen seiner Aussagen
verleumdet und bei öffentlichen Auftritten niedergeschrieen und am Reden
gehindert.
Wer den Vergleich menschlichen Leidens mit dem Leiden anderer höherer
Säugetiere für unzulässig hält, hat das Wesentliche noch nicht begriffen
und verschliesst Verstand und Herz vor den biologischen und
psychologischen Tatsachen. Meistens sind dies Fleischesser, welche das
schlechte Gewissen, das sie unter den heutigen Bedingungen, wie
Nutztiere gehalten werden, haben müssten, auf diese Weise verdrängen.
Indem sie den Menschen weit über alles stellen, rechtfertigen sie nicht
nur ihren Beitrag zum Massentierelend, sondern stellen sich auch noch
als Humanisten und gute Christen dar. Solche Menschen - insbesondere
auch Richter -, welche andere Lebewesen anhand unhaltbarer Kriterien
diskriminieren, sind nicht qualifiziert, mir Rassendiskriminierung
vorzuwerfen.
Diese Menschen, welche sich über Vergleiche, anstatt über die
dahinterliegenden grausamen Missstände empören, sind selber das beste
Beispiel dafür, dass "politisch korrekt" formulierte sachliche Argumente
nicht genügen und nur unbeschönigte, für sie schockierende Darstellungen
einen Denkprozess und eine Bewusstseinsentwicklung in Gang zu setzen
vermögen, wenn überhaupt. In dieser Situation ist eine empörte Reaktion
schon besser als gar keine. Aufbegehren und Ablehnen ist häufig die
zweite Stufe in einem Entwicklungsprozess und bedeutet, dass die erste
Stufe, das Nicht-zur-Kenntnis-nehmen, überwunden ist.
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