Aus dem Tages-Anzeiger vom 15. Mai 2001
Der Schlendrian in den Tierlabors
Die Zahl der Versuchstiere ist oft unn�tig hoch, weil bei der Forschung mit
Tierexperimenten Qualit�t und Ethik zu wenig beachtet werden.
M�use brauchen nicht viel Platz. Weder im K�fig noch auf Papier. Mit einem Satz
umschrieb
eine Schweizer Forschergruppe k�rzlich die Laborm�use ihres Experiments in der
Wissenschaftszeitschrift "Journal of Immunology": "Die M�use einer
bestimmten Zuchtlinie
wurden beim Institut f�r Labortierkunde des Tierspitals Z�rich gekauft und in keimfreier
Umgebung gehalten", hiess es sinngem�ss und auf Englisch.
Naturwissenschaftler arbeiten exakt, das verlangt ihr Beruf. In wissenschaftlichen
Artikeln
beschreiben sie detailliert, wie Chemikalien gemischt und Proteine gereinigt werden, damit
das Experiment von anderen beurteilt werden kann. Doch die Liebe zum Detail ist nicht
�berall gleich stark ausgebildet: "Meistens wird nur d�rftig �ber die
Versuchstiere
informiert", schrieb der schwedische Physiologe Karl �brink letztes Jahr in der
Wissenschaftszeitschrift "Laboratory Animals". Die Konsequenz dieser
Nachl�ssigkeit: Es
werden mehr Tiere ben�tigt, sagen Forscher wie �brink, die sich mit der Qualit�t und
Ethik
von Tierversuchen befassen.
Forscher legen Wert darauf, Experimente unter kontrollierten Bedingungen durchzuf�hren,
und schr�nken deshalb die Vielfalt des Lebens im Labor gezielt ein: Temperaturen werden
konstant gehalten, Krankheitserreger werden entweder ausgesperrt oder mit Absicht
eingef�hrt, und die Tagesl�nge wird von der Laborlampe bestimmt. Aber der eigentliche
Ort
des Experimentes hingegen - der K�rper der Tiere - wird oft oberfl�chlich beschrieben,
wie
die Ethikerin Lynda Birke von der University of Warwick in England feststellte.
Wichtige Informationen fehlen
Diesen Schluss zieht sie aus einer Untersuchung von 149 Artikeln aus acht
Wissenschaftszeitschriften wie "Journal of Immunology" oder "Journal of
Neuroscience".
Danach fehlten in einem Drittel der Artikel die Angabe des Geschlechts der Tiere, 60
Prozent der Artikel erw�hnten das Alter nicht, und nur die H�lfte gab an, woher die
Tiere
stammten. Auch die Gr�sse des K�figs wurde in 80 Prozent der Artikel nicht erw�hnt.
"Das
erstaunlichste Resultat der Untersuchung ist, wie h�ufig Informationen weggelassen
werden", sagt Birke.
M�use sind M�use. Weshalb sollten deren Alter, Men�plan und Wohnsituation in einem
wissenschaftlichen Artikel erw�hnt werden? "Weil Forschungsresultate sonst nicht
richtig
interpretiert werden k�nnen", schrieb die deutsche Gesellschaft f�r
Versuchstierkunde schon
1985. Seither legt die Gesellschaft Forschern ans Herz, nicht nur den genetischen
Hintergrund oder das Geschlecht der Tiere zu definieren, sondern beispielsweise auch die
Zahl der Tiere pro K�fig, ihre Herkunft und die Gew�hnungszeit an das Leben im Labor.
"Wenn schlecht dokumentierte Experimente wiederholt werden m�ssen, sterben mehr
Tiere
als n�tig, was ethisch inakzeptabel ist", sagt die Pr�sidentin Annemarie Treiber.
Auch der
Pr�sident der Schweizerischen Gesellschaft f�r Versuchstierkunde, Rudolf Pfister,
beschreibt die Situation als verbesserungsw�rdig. "Die Rahmenbedingungen eines
Experimentes werden in vielen F�llen mangelhaft beschrieben. Dies macht es schwierig,
das Geschehene nachzuvollziehen."
Leben im Einzelk�fig
Ob es sich um den L�rmpegel in Kaninchenk�figen handelt oder den Menstruationszyklus
von Rattenweibchen, es gibt nur wenige Variablen im Lebensbereich eines Labortiers,
deren Einfluss auf Forschungsresultate nicht untersucht worden ist. Beispielsweise �ndert
sich die Widerstandskraft gegen�ber vielen toxischen Substanzen bei M�usen mit der
Anzahl Tiere pro K�fig, der Tageszeit oder dem Geschlecht. "Auch unerkannte
Infektionen
k�nnen die Messungen oft stark beeinflussen", sagt Pfister. Das Immunsystem von
Rhesusaffen leidet unter dem Leben im Einzelk�fig - ein Effekt, der w�hrend Monaten
anhalten kann, selbst wenn die Tiere wieder in eine Gruppe eingef�hrt werden, berichtete
eine Studie vor zwei Jahren im "American Journal of Primatology".
"Viele Forscher sind sich nicht dar�ber im Klaren oder halten es f�r unwichtig,
welche Rolle
die Behandlung des Tieres im Experiment spielt", sagt der Veterin�rmediziner Viktor
Reinhardt, der f�r das Animal Welfare Institute in Washington arbeitet. Er hat
untersucht, wie
umfassend Forscher die Blutentnahme bei Affen schildern. Genaue Angaben seien wichtig,
weil verschiedene Studien gezeigt h�tten, dass stressbeladene Prozeduren die Physiologie
der Tiere beeinflussen, sagt Reinhardt.
Eine dieser Studien stammt von John Capitanio von der Universit�t von Kalifornien in
Davis.
Er untersuchte an 37 Rhesusaffen, welche Rolle die Zeit w�hrend der Blutentnahme spielt.
Capitanio liess die Stoppuhr laufen vom Moment, als der Mensch den Raum mit den
K�figen betrat, bis allen Affen Blut genommen worden war. "Jene Tiere, denen nach
acht
Minuten Blut abgenommen wurde, wiesen doppelt so viele weisse Blutk�rperchen auf wie
jene Tiere, die schon nach f�nf Minuten an die Reihe gekommen waren", schreibt
Capitanio
im "Journal of Medical Primatology". Laut Capitanio k�nnten solche Schwankungen
"in der
klinischen Forschung zu falschen Resultaten und Fehlentscheidungen f�hren".
Um herauszufinden, wie pr�zise Forscher die Blutentnahme beschreiben, �berpr�fte
Reinhardt 75 Artikel aus zwei bekannten US-Wissenschaftszeitschriften. Neun von zehn
Artikeln erw�hnten nichts �ber die Dauer der Prozedur, ein Viertel der Artikel
verschwieg, ob
die Primaten bet�ubt worden waren, und 73 Prozent liessen offen, ob die Tiere
festgebunden oder trainiert worden waren, freiwillig Blut zu spenden. "Diese
Variablen zu
ignorieren und gleichzeitig zu erkl�ren, man habe "normale" Blutwerte erhalten,
widerspricht
wissenschaftlichen Regeln", schrieb Reinhardt im Herbst 2000 im "Journal of
Applied
Animal Welfare Science". W�rden solche Faktoren nicht ber�cksichtigt, m�ssten
letztlich
mehr Primaten ein Leben im Labor fristen.
Fehler in der Statistik
Wie Forscher Tierexperimente planen und auswerten, erstaunte auch Michael Festing,
Statistiker und Toxikologe von der Universit�t von Leicester: Als er sich 78 Artikel aus
der
Wissenschaftszeitschrift "Toxicology and Applied Pharmacology" genauer ansah,
enthielten
60 Prozent der Artikel Fehler in der Statistik. Nur knapp 10 Prozent wiesen
fortgeschrittene
Methoden der Planung und Statistik auf, mit denen sich die Zahl der Tiere reduzieren
l�sst.
Laut Festing l�sst fehlendes statistisches Fachwissen die Zahl der ben�tigten Tiere - in
Extremf�llen - um das F�nffache ansteigen.
Ob Ratten, Affen oder Kaninchen, es f�hren verschiedene Wege zu einer Verringerung der
Anzahl an Versuchstieren. Einer dieser Wege, bemerkt Festing, "ist gute
Wissenschaft".
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