VN2003-2

Editorial von Erwin Kessler, Präsident VgT:

Lasst den Kühen ihre Hörner!

  

Erwin Kessler, Gründer und Präsident des Vereins gegen Tierfabriken VgT
links: 1948                 -                 rechts 2002

Als Knabe (auf dem Foto vierjährig) verbrachte ich die Sommerferien oft auf dem Bauernhof meines Onkels. Im alten Stall standen in Reih und Glied angebunden, von links nach rechts, ein Muni (schweizerdeutsch für "Stier"), zehn Kühe, ein Pferd. Im Stallgang war einkleiner, mobiler Holzverschlag, der gerade so gross war, wie das kleine Kalb, das dort eingesperrt war. Um den Kopf gebunden trug es einen "Maulkorb" aus Aluminium, eine grosse Büchse mit kleinen Löchern, welche die ganze Schnauze umfasste und fast bis zu den Augen reichte. Instinktiv fühlte ich das Elend dieses jungen Tieres. Auf meine Frage, warum das Kalb eine solche Büchse trage, erhielt ich von den Erwachsenen nur eine unwirrsch-ausweichende Kurzantwort, welche jedes weitere Nachfragen im Keim erstickte. Ich wäre auch noch zu klein und verbal zu hilflos gewesen, gezielte weitere Fragen zu stellen oder mich gar für das kleine Häufchen Elend in dieser engen Kiste mit seiner Büchse vor dem Gesicht einzusetzen. Das Einzige, was ich tun konnte war, ihm Grashalme durch die kleinen Löcher in der Büchse ins Maul zu schieben. Ungestüm machte das junge Tier, das in der Kiste keinen Schritt gehen, geschweige denn sich umdrehen konnte, mit dem Oberkörper Vor- und Rückwärtsbewegungen, soweit das in der Kiste möglich war, gerade so wie jemand, der seine Fesseln abschütteln möchte. Heute kenne ich den Grund für diese Tierfolter: Das Kalb sollte ausser der Milch, die ihm zweimal am Tag mit einem Nuggi-Sauger aus dem Eimer gereicht wurde, nichts fressen oder lecken können, damit sein Fleisch schön hell bleibe. Das Fressen von Gras, Heu oder Stroh oder schon das Lecken von Eisenbeschlägen seines Gefängnisses hätte den künstlich erzwungenen Eisenmangel behoben und dem Muskelfleisch eine gesunde, rote Färbung gegeben. Kommt dazu die Bauernregel "Ruh und Rast ist die halbe Mast", welche mit der erzwungenen Bewegungslosigkeit in der engen Kälberkiste umgesetzt wurde: Das Kalb sollte nicht durch unnötige Bewegungen Energie verbrauchen, auf dass es mit möglichst wenig Futter möglichst rasch an Gewicht zunehme - eine Bauernlogik, die heute aufgrund wissenschaftlicher Untersuchungen als falsch widerlegt ist.

Während dem Füttern und Melken waren die Köpfe der Kühe mit einem hölzernen, zentralverriegelten Halsgitter über der Futterkrippe festgehalten. Nach der Fütterung wurde dieses geöffnet und die satten Kühe zogen ihre Köpfe zurück. Nun hatte ich mit einem kurzen Besen durch die Futterkrippe zu gehen und das übrig gebliebene Gras hinauszuwischen. Anschliessend wurden die Kühe getränkt, indem Wasser in die Krippe geleitet wurde. Das Aufdrehen des Wasserhahns fand ich derart interessant, dass ich das einmal machte, als die Krippe noch voller Gras war. Es gab eine kleine Überschwemmung und ein grosses Donnerwetter, das aber wenigstens nicht lebensgefährlich war wie mein nächster Einfall: Zum Reinigen der Krippe stieg ich rechts bei der ersten Kuh in die Krippe, stiess das Restgras mit dem Besen vor mir her und verliess die Krippe wieder bei der letzten Kuh, vor dem Muni. Eines Tages, bei der letzten Kuh angekommen, dachte ich mir, ich könnte doch eigentlich auch gleich die Krippe beim Muni putzen (das machte sonst jeweils der Knecht von Hand). Der riesige dunkle Muni, der mit zwei mächtigen Ketten am Krippenrand angebunden war, sah nicht gefährlich aus, stand der doch immer nur an seinem Platz. Heute denke ich: Was hätte dieser lebenslänglich Kettenhäftling auch anderes tun können, als nur dort zu stehen. Lange dachte ich damals als kleiner Bub nicht über diese Sache nach, sondern ging spontan die par Schritte vor dem Muni durch, bis zum Ende der Krippe. Ich sah gerade noch aus den Augenwinkeln, wie sich der Muni zurücklehnte, was ich instinktiv richtig als Anlaufholen interpretierte und darum meinen letzten, rettenden Schritt beschleunigt tat. Eine Handbreite hinter mir bohrten sich die Hörner in den weiss getünchten Mörtel der Wand.

Ich habe nicht gewagt, jemandem von dem Vorfall zu erzählen, auch nicht von der nächsten "Heldentat": Als ich mich einmal in der Umgebung des Hofes herumtrieb, kam ich zu einer Weide mit einem Bretterzaun. Darin graste ein einzelner, junger Muni. Er sah mich neugierig an, mit dem dem Rindvieh eigenen treuherzigen, gemütlichen Blick. Ich fühlte mich zu diesem einsamen Tier hingezogen und kletterte über den Zaun. Kaum war ich hinüber, sah ich den jungen Muni mit gesenkten Hörnern auf mich zu rennen. So schnell ich konnte, kletterte ich wieder über den - gemessen an meiner Körpergrösse - hohen Bretterzaun. Gerade noch rechtzeitig: Hinter mir steckten schon die Hörner im Brett!

Diese zwei Erlebnisse genügten. Ich benahm mich nie mehr unvorsichtig gegenüber Stieren. Dass Hörner gefährlich sein können, hatte ich für immer gelernt.

Trotzdem bin ich ein vehementer Gegner des Enthornens. Ein Landwirt, der mit dieser Gefahr nicht umgehen kann, so wie er auch die zahlreichen von den landwirtschaftlichen Maschinen ausgehenden Gefahren beachten muss, der hat den falschen Beruf. Kommt dazu, dass die Hörner der Kühe - im Gegensatz zu denen der Stiere - keine akute Gefahr darstellen. Ich erinnere mich noch lebhaft an das tägliche Gedränge im Stallgang und besonders bei der schmalen Stalltüre, wenn die Kühe auf die Weide gingen und abends wieder zurückkamen. War das ein Gedränge! Manchmal fiel es einer Kuh ein, ausgerechnet an dieser engsten Stelle nochmals umkehren zu wollen, sich quer zu stellen und zu drängeln, und ich als kleiner Bub mitten in diesem Knäuel. Auch in einer solchen Situation wissen die Kühe genau, wo ihre Hornspitzen sind. Ich staune immer wieder, wenn ich sehe, wie Kühe beim Fressen mit ihren Hornspitzen zentimeternah am Auge ihrer Nachbarin herumfuchteln und diese nur etwas mit dem Auge blinzelt, wissend, dass die andere ihre Hörner unter Kontrolle hat. Hörner gehören zu den Kühen und sie wissen damit umzugehen, besser als viele Autofahrer mit ihrem Fahrzeug, dem auch nicht einfach die Räder abgenommen werden, um seine tödliche Gefährlichkeit zu entschärfen. Verstümmelt darum das liebe Vieh nicht. Lasst den Kühen ihre Hörner!

   


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