VN2003-2
Nicht ob sie denken können, ist die Frage, sondern ob sie leiden können
Text und Fotos von Erwin Kessler, Gründer und Präsident des Vereins gegen Tierfabriken VgT
Es gibt sogar Menschen, die sich tierliebend
nennen, die ganz selbstverständlich davon ausgehen, das Leiden von Menschen
wiege mehr als das Leiden von nichtmenschlichen Primaten und anderen höheren
Säugetieren. Die sehr nahe biologische Verwandschaft zwischen Menschen und
anderen hochentwickelten Säugetieren, der weitgehend analoge Bau des
Nervensystems und das zu einem nicht unwesentlichen Teil analoge
Verhaltensmuster müsste genügen, die nicht geringere Leidensfähigkeit dieser
Wesen anzuerkennen. Ihnen müsste vernünftigerweise die gleiche
Rücksichtnahme und der gleiche Schutz zukommen, wie sie eine echte Humanität
gegenüber Schutz- und Wehrlosen verlangt. Die Reduktion der Menschlichkeit
auf blosse Mitmenschlichkeit ist ethisch unvertretbar [Gotthard Teutsch,
"Lexikon der Tierschutzethik"]. Es gab einmal eine Zeit, in der auch Frauen als minderwertige Wesen angesehen wurden. Es gab auch eine Zeit, in der man glaubte, Neger wären minderwertig und dürften darum als Sklaven wie nicht-lebende Ware verkauft und straflos getötet werden, so wie heute mit Tieren umgegangen wird. Die Qualifikation als "minderwertiges Lebewesen" war schon immer ein fatales Urteil: ein Freipass für willkürliche Ausbeutung, Gefängnis und Tötung. In der neueren Geschichte wurde dieses Urteil "minderwertig" zum Holocaust an Nicht-Ariern. Heute ist weltweit ein noch viel weitergehender Holocaust an Nicht-Menschen im Gange. Es ist eine Eigenart des Menschen, dass er grosses, staatlich organisiertes Massenunrecht meist erst in Geschichtsbüchern als solche erkennt, aber nicht solange er mit persönlicher Verantwortung als Zeitgenosse mitten drin steht. Aus der Geschichte wird wenig gelernt. Ein neuer Hitler würde erst dann erkannt, wenn er mit Schnurrbart, Scheitel und Hakenkreuz daher käme. Weil heute in den KZs Nicht-Menschen statt Nicht-Arier dahinvegetieren, erkennen die Massen und ihre Anführer das neue Massenunrecht schon wieder nicht. Und die Schächtjuden, die durch ihr Schicksal eigentlich für diese Problematik besonders sensibilisiert sein müssten, sind völlig blind, wenn sie heute selber ein Massenverbrechen an sensiblen, wehrlosen Geschöpfen begehen. Die Indianerverfolgung und -Vernichtung, die Sklaverei, die Inquisition und Hexenverfolgung, die Verfolgung und Ausrottung von Juden und Zigeunern - das alles sind historische Ereignisse, deren psychosoziale und politische Mechanismen wir in der heutigen Ausbeutung der Tiere wiederfinden. Die Neger-Versklavung hat viele Parallelen zur heutigen Ausbeutung der landwirtschaftlichen Nutztiere. Auch die Ausbeutung der Sklaven fand vor allem in der Landwirtschaft, auf den Farmen und Plantagen statt. Für den Fall, dass die Sklaverei verboten oder mit Auflagen für einen humaneren Umgang “behindert” würde, prophezeite die Agro-Lobby den wirtschaftlichen Ruin. Ähnliche Drohungen verbreitet die Agro-Lobby heute für den Fall, dass die tierquälerischen Formen der Nutztierhaltung unterbunden würden. Im Buch "The Dreaded Comparison: Human and Animal Slavery" werden die Analogien zwischen Sklaven- und Nutztierausbeutung historisch aufgezeichnet. Darin ist ein ergreifender Bericht eines amerikanischen Sklaven aus dem Jahr 1854 enthalten, den ich hier ins Deutsche übersetzt wiedergebe: "Ich sah meine Mutter nur vier- oder fünfmal in meinem Leben, und jedesmal war es sehr kurz und in der Nacht. Sie gehörte einem Mr Steward, der ungefähr zwanzig Kilometer entfernt wohnte. Sie machte diese Reisen, um mich in der Nacht zu sehen - den ganzen Weg hin und zurück zu Fuss, nach der harten Tagesarbeit. Sie war Hilfsarbeiterin auf dem Feld. Wer bei Sonnenaufgang nicht auf dem Feld war, wurde ausgepeitscht..." Jedesmal, wenn ich an diese Geschichte denke, läuft es mir kalt den Rücken hinunter, Tränen und Wut überkommen mich und ich wünschte mich in jene Zeit zurück, um dieser Mutter helfen zu können. Dabei wäre ich damals genauso machtlos gewesen wie heute angesichts des ähnlichen Unrechts gegenüber den Nutztieren. Als ich das vor den Toren der Stadt Zürich gelegene Kloster Fahr der "Kindsentführung" bezichtigte, weil die frischgeborenen Kälber ihren Müttern weggenommen und einsam in eine Holzkiste gesperrt wurden, hat mir das Bezirksgericht Baden diese und andere Kritik an der klösterlichen Tierhaltung mit einer sofortigen Verfügung bei Strafandrohung verboten (www.vgt.ch/doc/fahr). Wer damals schwarzen Müttern Mutterliebe nachsagte, wurde genauso als "extrem" betrachtet, wie wenn wir heute die Begriffe Mutterbindung und Kindsentführung im Zusammenhang mit Kühen und Kälbern verwenden. Seit den letzten Hexen-Prozessen in der Schweiz ist es erst rund 200 Jahre her. Zeitgenossen waren Mozart, Schiller, Goethe, Kant, Pestalozzi. Im Jahr 1782 wurde in der Schweiz die letzte Hexe Anna Göldin hingerichtet; es war ein politischer Justizmord. Die Willkür und Absurdität mancher Gerichtsverfahren gegen uns Tierschützer erinnert mich immer wieder an diese Hexen-Prozesse, die nicht etwa - wie viele glauben - von kirchlichen Inquisitoren, sondern von den normalen Gerichten, von studierten Juristen, durchgeführt wurden ["Hexenbrände" von Franz Rueb, Weltwoche-Verlag]. Die Art und Weise, wie im Prozess gegen Anna Göldin Recht und Vernunft den Interessen des dörflichen Politfilzes gebeugt wurden, treffen wir heute in der politischen Gerichtswillkür gegen den VgT wieder an. Alles ist verfeinert und subtiler geworden, entspringt aber demselben Geist. Ich werde nicht wie Anna Göldin mit dem Schwert geköpft; der Politfilz versucht mich mit Verboten, hohen Gerichtskosten und Gefängnis zum Schweigen zu bringen. Es gibt in der Schweiz keine Hexen mehr - aber immer noch politisch Verfolgte. So herzlos gewisse kirchliche Kreise zum angeblichen Nutzten des Menschen Tiere töten, quälen und "verbrauchen" können, so herzlos können die gleichen Kreise einem todkranken, unheilbaren Menschen die erbetene Erlösung verweigern. Als Motivation für diese, auf beide Seiten hin extreme, ja krankhafte Unterscheidung des Lebenswertes nach dem ebenso simplen wie unhaltbaren Kriterium "Mensch oder Nichtmensch", kann ich einzig und allein eine ungeheure religiöse Voreingenommenheit und Scheinheiligkeit im wahrsten Sinne dieses Wortes erkennen. Unsere nächsten Verwandten, die Gorillas und Schimpansen, verfügen über die gleichen angeborenen Ausdrucksbewegungen wie wir Menschen: Sie können lachen und weinen, sich freuen und Angst haben, zärtlich und zornig sein, und im Schlaf sind sie fähig zu träumen ["Der verkannte Gorilla", in B Grzimek: Tierleben]. Nach neueren Forschungsergebnissen haben Schimpansen durchaus ein Selbstbewusstsein. Sie erkennen sich im Spiegel sehr klar und suchen keineswegs hinter dem Spiegel nach dem vermeintlichen Partner, wie das in älteren Büchern noch behauptet wird. Sie können sogar die Gehörlosensprache erlernen und diese selbständig an ihre Jungen weitergeben. Roger Fouts schildert seine eindrücklichen Erlebnisse mit sprechenden Schimpansen in seinem Buch "Unsere nächsten Verwandten". Eine unsterbliche Seele des Menschen ist philosophisch so wenig beweisbar wie eine unsterbliche Seele der Tiere [Eugen Drewermann]. Wir sollten uns deshalb davor hüten, zu argumentieren es sei nicht erwiesen, dass die Tiere leiden, eine Seele haben etc. Eher müssten wir Beweise dafür verlangen, dass die Tiere in den Tierfabriken und Labors nicht leiden, denn beweispflichtig in einem ganz allgemeinen Sinne ist immer derjenige, der Selbstverständliches in Frage stellt. Warum schlachten und essen wir debile, senile und komatöse Menschen nicht, jedoch hochstehende gesunde Säugetiere? (Diese provokative Frage ist berechtigter, als manch oberflächlicher und voreingenommener Zeitgenosse zu sehen gewillt ist.) Nicht in tiefschürfenden, philosophischen Ueberlegungen, sondern in der aus dem Tierreich bekannten instinktiven Abneigung gegen das Fressen der Artgenossen, das heisst in der intra-spezifischen Tötungshemmung sehe ich den eigentlichen Grund für diese irrationale Diskriminierung, obwohl wir uns in unserer menschlichen Selbstüberschätzung oft für wunderbare Vernunftwesen halten, die bewusst nach vernünftiger Einsicht handeln, nicht wie "trieb-behaftete Tiere". Viele religiöse Moralisten werden diese These entrüstet von sich weisen. Ihre Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen Lebewesen - auch in klösterlichen Tierfabriken - zeigt, dass meine These stimmt. Sie werden mir entgegenhalten, dass der Mensch höher stehe und die Tiere nutzen dürfe, so stehe es schon in der Bibel. Ja, aber von einer Aufforderung zu grausamer Ausbeutung und Vergewaltigung steht meines Wissens nichts in der Bibel. Auch nicht in der jüdischen Thora. Trotzdem hat der Basler Rabbiner Levinger, europaweiter Missionar für das betäubungslose Schächten, in der Jüdischen Rundschau geschrieben, wo es dem Menschen nütze, sei Tierquälerei nicht verboten. Leidvolle Tierversuche werden damit gerechtfertigt, dass damit Menschenleben gerettet werden könnten. Diese Argumentationsweise akzeptieren erstaunlich viele Menschen. Jedoch ist das reinster, brutalster Egoismus. Moralisten und religiöse Fanatiker geben sich gar nicht die Mühe, diesen primitiven, aber so bequemen Grundsatz einmal ernsthaft zu hinterfragen. Sie haben nur immer den Menschen im Auge (sich natürlich stillschweigend eingeschlossen). Das verhüllt den dahinterstehenden Egoismus, er lässt sich hinter einer 'gottgefälligen sozialen Fürsorge zum Mitmenschen' verstecken. Die Haltung zum Tier entlarvt diese Art von Nächstenliebe schlagartig als Scheinheiligkeit, denn Ethik ist nicht teilbar. Entweder orientiert ein Mensch sein Verhalten an der Ethik, oder eben nicht. Man kann nicht gegenüber einigen menschlich und ethisch, gegenüber anderen grausam sein; andernfalls liegt eine egoistische, diskriminierende Schein-Ethik bzw Schein-Heiligkeit vor, die nicht wirklich ethisch fundiert ist. Wenn das Zufügen von schwerem Leid nur eine Frage des Nutzens wäre: Warum machen die Tierexperimentatoren ihre qualvollen Versuche nicht an ihren eigenen Kindern? Was bedeutet das schon, ein paar Kinder quälen, wenn damit Tausenden von anderen kranken Kindern geholfen werden könnte? Und dies sogar weit besser als mit Tierversuchen, weil diese schlecht auf Menschen übertragen werden können. Manch einer mag sich angesichts der Not, die viele Menschen auf dieser Erde durch Krieg, Hunger, Vertreibung und Willkür erleiden müssen, fragen: Ist es da überhaupt vertretbar, sich mit dem verbesserten Schutz der Tiere zu beschäftigen? Müssten nicht die ganzen Anstrengungen auf die notleidenden Menschen konzentriert werden? Solchen Erwägungen muss man entgegenhalten: Ethik ist unteilbar. Das hatte Albert Schweitzer - der brühmte Urwalddoktor - zutiefst begriffen; er hat Menschen und Tieren gleichermassen geholfen. Wer nur, wie es seinen egoistischen Bedürfnissen am besten passt, hier "ethisch" handelt, dort aber nicht, der handelt überhaupt nicht ethisch, sondern egoistisch. Viele Menschen fallen auf das Schlagwort ‘Menschenschutz geht vor Tierschutz’ herein. Nach einer solchen Priorität wäre es strenggenommen sogar unmoralisch, ietwas für ein leidendes Tier zu tun, solange es noch irgendeinen leidenden Menschen gibt. In ähnlicher Weise könnte sich der Arzt nur noch um Schwerkranke, der Lehrer nur noch um Sorgenkinder, die Justiz nur um Kapitalverbrechen kümmern. Zweitwichtiges so lange zu unterlassen, bis alles Wichtigste sich erledigt hat, wäre das Ende aller Kultur. [Teutsch: "Lexion der Tierschutz-Ethik"]. Wer glaubt, die menschliche intellektuelle Ueberlegenheit rechtfertige die Ausbeutung der Tiere, muss sich die Frage gefallen lassen: Wäre er auch damit einverstanden, wenn alle Menschen mit einem Intelligenz-Quotienten unterhalb eines bestimmten Grenzwertes eingesperrt und zum Wohle der "Edlen" - um nicht Arier zu sagen - ausgebeutet würden? Der amerikanische Philosoph und Tierschutz-Ethiker Peter Singer schreibt in seinem sehr lesenswerten Buch "Befreiung der Tiere" (Hirthammer Verlag): Wenn der Besitz eines höheren Grades von Intelligenz einen Menschen nicht berechtigt, einen anderen für seine eigenen Zwecke zu benutzen, wie kann er Menschen berechtigen, Nichtmenschen zu dem gleichen Zweck auszubeuten? Viele Philosophen haben das Prinzip der gleichen Berücksichtigung der Interessen in der einen oder anderen Form als grundlegendes moralisches Prinzip vorgeschlagen; nicht viele von ihnen aber haben erkannt, dass dieses Prinzip nicht nur für Mitglieder unsere eigenen Spezies gilt, sondern auch für andere. Jeremy Bentham war einer der wenigen, die es erkannten. Weitblickend schrieb er zu einer Zeit, zu der schwarze Sklaven von Franzosen befreit worden waren, in den britischen Dominions aber noch immer so behandelt wurden, wie wir heute Tiere behandeln: 'Der Tag mag kommen, an dem der Rest der belebten Schöpfung jene Rechte erwerben wird, die ihm nur von der Hand der Tyrannei vorenthalten werden konnten. Die Franzosen haben bereits entdeckt, dass die Schwärze der Haut kein Grund ist, ein menschliches Wesen hilflos der Laune eines Peinigers auszuliefern. Vielleicht wird eines Tages erkannt werden, dass die Anzahl der Beine, die Behaarung der Haut oder die Endung des Kreuzbeines ebensowenig Gründe dafür sind, ein empfindendes Wesen diesem Schicksal zu überlassen. Was sonst sollte die unüberschreitbare Linie ausmachen? Ist es die Fähigkeit des Verstandes oder vielleicht die Fähigkeit der Rede? Ein voll ausgewachsenes Pferd aber oder ein Hund ist unvergleichlich verständiger und mitteilsamer als ein einen Tag oder eine Woche alter Säugling oder sogar als ein Säugling von einem Monat. Doch selbst wenn es anders wäre, was würde das ausmachen? Die Frage ist nicht: können sie verständig denken? oder: können sie sprechen? sondern: können sie leiden?' |
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