VN 09-3 Spannend wie ein Roman - interessant wie ein Sachbuch:
Zwei Leseproben: Anfang des 20. Jahrhunderts streifte Bert Hansen, ein stellvertretender US-Marshal in Alaska, viele Tausende Kilometer durch die Wildnis; seine Aufgabe bestand darin, Erfrorene und Tote, Gesetzesbrecher und geistig Behinderte aufzuspüren. Als er eines Tages im Landesinneren über einen zugefrorenen Fluss fuhr, stürzte er durch das Drum Ice und war in einem »Kristall-grab« von dreieinhalb Metern Tiefe und 45 Metern Breite gefangen. Sein Leithund Tuesday hörte das Krachen, spürte, wie der Schlitten plötzlich leichter wurde, und kehrte mit den an-deren Hunden seines Gespanns um, um der Sache nachzugehen. (Viele Gespanne wären einfach weitergelaufen.) Der Hund blickte in das Loch hinunter zu Hansen, winselte und stemmte die Pfoten in die Kante des Lochs, »als wollte er zu mir hinunter-springen«, so Hansens Erinnerung. Hansen und Tuesday hatten die gleiche Route schon mehrmals gemeinsam befahren, und der Marshal wusste, dass in einer Hütte, etwa 15 Kilometer entfernt, ein Trapper wohnte. «Also zeigte ich mit der Hand in dieser Richtung und befahl Tuesday, loszufahren. Er bellte, wandte den Kopf in die angegebene Richtung und blickte dann zu mir hinunter, als wolle er meine Gedanken lesen« — dann machte er sich mit dem Hundegespann auf den Weg. Die Minuten zogen sich endlos hin, und Hansen, der jetzt allein war, geriet allmählich in Panik. Er packte die Felsbrocken, wollte sie aus dem gefrorenen Kies lösen und an der Wand des Lochs zu einer provisorischen Leiter aufstapeln. Er musterte die Höhle in ihrer ganzen Länge, fand an ihrer Wand eine ab-geschrägte Stelle und erkannte, dass er dort Stufen in das Eis schlagen und hinausklettern konnte. Auf der Suche nach seinem Messer tastete er seinen Parka ab, aber er hatte vergessen, es ein-zustecken — ein schwer wiegendes Versäumnis. Verzweifelt fing er an, auf das Eis einzuschlagen. »Ich befand mich in diesem seltsamen Panikzustand, der einen Menschen manchmal überfällt, wenn alles gegen ihn zu sprechen scheint — wieder einmal hatte ein Schlittenfahrer seine letzte Fahrt unternommen, das war's dann!« Der hart gesottene Fahrer ließ sich auf alle viere nieder und kratzte an den Felsbrocken, bis seine Finger bluteten. Nachdem es ihm gelungen war, einen Stein loszubrechen, schlug er damit immer wieder gegen das Eis, bis er schließlich hinauskrabbeln konnte. Gerade als er sich an die Oberfläche zog, kam Tuesdav mit seinem Gespann um die Ecke, und auf den Schlittenkufen stand der Trapper. Seppala war mit Togo schon einmal bei Nordomvind auf dem Norton Sound gewesen. Damals war er ein paar Kilometer von der Küste entfernt, als er in der kurzen Windstille zwischen zwei Böen ein verdächtiges Knacken hörte. Er rief Togo ein "Ho!" zu, aber der Hund hatte den Riss bereits belmerkt und lief mit Höchstgeschwindigkeit auf die nächstgelegne Stelle an Land zu. Als sie der Küste schon recht nahe waren, bäumte Togo sich plötzlich ohne ersichtlichen Grund auf und landete mit einem Salto rückwärts zwischen seinen Kameraden. Seppala stieß einen verärgerten Ruf aus. Für Zirkusnummern war nun wirklich keine Zeit. Er lief zu Togo und wollte wissen, was los war - da sah er. warum der Hund angehalten hatte. Keine zwei Meter vor ihnen lag ein Kanal mit offenem Wasser, und Seppala konnte zusehen, wie die Lücke immer größer wurde. Er befand sich auf einer Eisscholle, die aufs Meer hinaustrieb. Nachdem er die Hunde beruhigt hatte, musterte er den Rand der Scholle und suchte nach einem Fluchtweg. Es gab keinen. Er war um die Mittagszeit bei lsaac's Point von der Küste aus aufgebrochen; jetzt kam die Nacht, und die Temperatur sank. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich mit seinen Hunden zusammenzukauern, Kräfte und Wärme zu sparen und darauf zu hoflen. dass der Wind drehte und ihn wieder Richtung Küste trieb. Als einige Stunden später nichts dergleichen geschehen war, wuchs Seppalas Angsl. Die Hunde spürten, wie seine Stimmung sich veränderte, und ließen einen langen. tiefen Klagelaut hören. Dann jaulte Togo ein Mal kurz auf. Der Leithund hatte etwas bemerkt: Der Wind begann zu drehen. Seppala spannte die Hundt wieder ein und wartete. Neun weitere Stunden trieb er mit der Scholle über das Wasser, ehe er wenige hundert Meter vor sich die Küste sah. Das Eisfloss näherte sich einer Scholle, die sich am Küsteneis verkeilt hatte. Seppala fuhr mit dem Schlitten am Rand entlang und suchte eine AbsprungsteIle. Zwischen seiner und der anderen Scholle lagen an der schmalsten Stelle etwa eineinhalb Meter - so weit konnte er nicht springen. Wenn es ihm aber gelang, Togo auf die andere Seite zu bekommen, konnte der Hund die beiden ScholIen dichter aneinander ziehen. Seppala befestigte an Togos Geschirr eine lange Leine, nahm ihn auf den Arm und warf ihn quer über den offenen Kanal. Die meisten Hunde wären nach einer solchen Einlage weggelaufen, aber "Togo begriff offenbar, was jetzt zu tun war", wie Seppala später berichtete. Er krallte sich auf der anderen Seite im Eis fest und zog in Richtung Küste. Das Seil riss. Togo wirbelte herum und sah seinen Herrn über die Lücke hinweg an. Die Leine glitt ins Wasser. Seppala war sprachlos. Er war gerade zum Tode verurteilt worden. Tierpsychologen haben einen Ausdruck für die Fähigkeit, Problemlösungen zu finden. Sie sprechen von "adaptiver Intelligenz". Der eisige Kanal, der Togo von Seppala trennte, verwehrte dem Hund seine Belohnung: wieder mit seinem Herrn und dem Gespann zusammen zu sein. Togo war als arktischer Schlttenhund geboren und ausgebildet, und das Ziehen gehörte zu seinem Instinkt. Von frühester Jugend an war er tagtäglich mit unglaublich vielfältlgen Aufgaben konfrontiert gewesen, und das hatte seine Lernfähigkeit sowie in manchen Fällen auch seine Fahigkeit zur Problemlösung geschult. Im Sommer wie auch im Winter war er durch unterschiedlichstes Gelände gelaufen, und während der letzten zwölf Jahre hatte er fast von morgens bis abends zugesehen und mitgearbeitet, wenn Seppala mit dem Gespann zu den Goldminen und zu den Ortschaften Alaskas fuhr.
Als Seppala den Hund über den Kanal hinweg ansah, sprang
Togo ins Wasser, packte die Leine mit dem Maul und kletterte wieder auf
die festliegende Scholle. Er hielt das Seil mit den Zähnen fest und
rollte sich darüber, "bis es zwei Mal um seine Schultern gewickelt war".
Dann begann er zu ziehen. Die Scholle bewegte sich, und Togo zerrte so
lange weiter, bis Seppala und die anderen Hunde des Gespanns gefahrlos
über die Lücke springen konnten. |