Robin Hood
Dreizehnte Folge: Nicht lange hatte an diesem Morgen die Sonne über dem Horizont gestanden. Schon bald kroch milchiger Nebel aus Wiesen und Wäldern. Er füllte nicht nur die Senken und Täler um York, sondern erreichte auch bald die Hügel und das Lager, an dessen Feuern die Geächteten saßen. In der vergangenen Nacht erst war Robin Hood seinen Häschern entkommen, nachdem er sich vorher tollkühn in die Gewalt des Regenten Johann begeben hatte. Doch Wagemut und Glück hatten ihn wieder den Anschluß an seine Gefährten vom Sherwood finden lassen. Manches war inzwischen geschehen. In der Gegend um York, in der Nähe von Johanns Schloß, kannte die Willkür der Normannen keine Grenzen mehr. Robin hatte mit ansehen müssen, wie Johanns Knechte einen Bauern mißhandelten. Und so war alles gekommen: Seine Begegnung mit Johann, das Gastmahl im Schloß und schließlich die Flucht. Aber in der Zwischenzeit hatten die Schergen Johanns nicht nur das Haus des Bauern niedergebrannt. Sie machten Jagd auf alle Sachsen, die nach ihrer Meinung dem Regime des Prinzen Johann genüber sich nicht ergeben genug gezeigt hatten. Alle diese Ereignisse hatten dazu beigetragen, daß aus den zuvor wenigen Begleitern Robin Hoods, die ihm aus dem Sherwoodwald gefolgt waren, ein stattlicher Haufe geworden war. Es waren fast hundert, die um die Feuer herumsaßen, und die nach Robins Rückkehr aus dem Schloß Johanns einen feierlichen Schwur geleistet hatten. Sie, die rechtlosen Sachsen, hatten geschworen, dem Recht und Gesetz wieder Geltung zu Verschaffen. So lange wollten sie zusammenbleiben, bis Richard Löwenherz über all das, was während seiner Abwesenheit in England geschehen war, Recht gesprochen hatte. Recht im Namen des rechten Königs - gleiches Recht für Normannen und Sachsen. Bis zu diesem Tag, so hatten sie beschlossen, sollte Robin Hood ihr Anführer sein. Doch zunächst galt es zurückzukehren in den Schoß des Sherwoods. Auf offenem Felde hätten sie schwerlich den Schergen Johanns trotzen können, denn hier waren sie ihnen an Zahl und Rüstung überlegen. Willkommen war deshalb der Nebel, der ihren Aufbruch beschleunigte. Bald zogen sie in langer Reihe dahin, stumm, lautlos; jeder mit den Gedanken an sein eigenes Schicksal beschäftigt. Hörbar waren nur die dumpfen Hufschläge der Pferde, und von Zeit zu Zeit ein heller Klang von Metall. Plötzlich stockte der Zug. Von Ferne erklang der Lärm von Waffen und lautem Stimmengewirr. Robin hatte Halt befohlen, und sandte zwei seiner besten Späher aus. Bald kehrten sie zurück und berichteten, daß in einem nicht weit entfernten Dorfe ein Galgen errichtet werde. Häscher Johanns wären auf dem Richtplatz, und einige gefesselte Dorfbewohner erwarteten ihr Ende. Ohne zu zögern winkte Robin seinen besten Leuten und verschwand lautlos im Nebel. Bald sahen sie die ersten Hütten auftauchen und fanden, durch das Stimmengewirr geleitet, den Weg zum Dorfplatz. Der Galgen stand. Der Henker war gerade dabei, die Schlingen um die Hälse zweier Bauern zu legen, die auf einem Karren standen. Es war nicht mehr viel Zeit, die beiden zu retten. Weit spannte Robin den Bogen, und der Pfeil durchbohrte die Brust des Henkers. Schwer sackte dessen Oberkörper nach vorn und der Hanf entglitt seinen Händen. Mit weit aufgerissenen Augen standen die Dorfbwohner - bewegungslos. Nicht so die Söldner Johanns. Scharf rissen sie ihre Pferde herum und suchten in der Richtung, aus der der Pfeil gekommen war, den Schuldigen. Doch im Nebel sahen sie nur schemenhaft die Dorfbewohner, alle ohne Waffen. So ritten sie vorwärts. In diesem Moment tauchten Robin und seine Männer neben den Pferden der Söldner auf und rissen die Überraschten herunter. Dumpf prallten ihre Körper auf den Boden auf, und bevor sie sich zur Wehr setzen konnten, waren sie schon gebunden. "Was soll der Galgen?" fragte Robin denjenigen, der der Anführer zu sein schien. "Welches Gesetz haben die beiden dort übertreten?" Die Angst stand in dem fahlweißen Gesicht des Söldners. Zu plötzlich war der Überfall gekommen, und jetzt brachte er anscheinend kein Wort heraus. Inzwischen hatte sich der Kreis der Bauern um den Galgen herum aufgelöst, und die meisten kamen zögernd näher. Einer von ihnen trat heran und sagte: "Ihr habt unserem Dorf einen schlechten Dienst erwiesen." "So waren diese Männer schuldig?" fragte Robin. "Sie waren es nicht", kam die Antwort. Dann deutete er auf die Söldner. "Sie kamen kurz nach Sonnenaufgang in das Dorf geritten, holten die beiden unter dem Galgen aus den Häusern und beschuldigten sie, den Geächteten um Robin Hood geholfen zu haben. Dann trieben sie uns hier zusammen und machten bekannt, daß die beiden sofort gehängt würden. Nach einem Befehl von Prinz Johann verliert jeder, der den Geächteten hilft oder nur ihren Aufenthalt verschweigt, sein Leben. Was dann geschah, wißt Ihr selbst." "Ist es so, wie der Bauer dort sagt?" wandte sich Robin wieder an den Anführer der Söldner. Doch dieser schien noch immer stumm bleiben zu wollen. "Nun", fuhr Robin fort, "wir haben zwar keine Folterwerkzeuge hier und gehen auch im allgemeinen damit nicht um, aber wir werden dich schon zum Sprechen bringen. Einige kräftige Rutenschläge auf die Fußsohlen tun es sicher auch." "Haltet ein", ließ sich endlich der Anführer vernehmen. "Der Mann sagt die Wahrheit, doch wir handelten auf Befehl Prinz Johanns." "Daß es diesen Befehl Prinz Johanns gibt, kann ich mir vorstellen", antwortete Robin. "Doch was haben diese beiden Bauern damit zu tun? Wo ist der Beweis, daß sie den Geächteten geholfen haben? Denn schließlich", lächelte er die Söldner spöttisch an, "müßten wir ja etwas davon gemerkt haben." Bei diesen Worten ging ein Murmeln durch die Reihen der Bauern und die Gesichtsfarbe der Söldner wurde noch um einen Schein fahler. Einer von ihnen stieß hervor: "Robin Hood!" "Ja, vor euch steht Robin Hood, und ich würde euch raten, jetzt ganz genau zuzuhören. Wenn euch euer Leben lieb ist, verschwindet sofort aus diesem Dorf und vergeßt, was hier geschehen ist. Sollte ich hören, daß diesen beiden dort, oder sonst irgend jemand aus dem Ort, in der nächsten Zeit auch nur ein Härchen gekrümmt wird, ist es um euch geschehen; selbst wenn ihr hinter meterdicken Mauern säßet, unsere Pfeile würden euch finden. Und nun verschwindet!" Kaum daß die Geächteten die Fesseln gelöst hatten, saßen die Söldner auf ihren Pferden und galoppierten davon, als hockte ihnen der Teufel im Nacken. Robin wandte sich wieder an die Bauern und sagte: "Auch wir werden wieder verschwinden. Es ist am besten, wenn ihr nicht über das sprecht, was hier geschehen ist. Doch wenn die Söldner wiederkommen sollten, dann gebt Bescheid. Der Sherwood hat tausend Ohren, und wenn wir können, helfen wir euch." "Bevor Ihr weiterzieht, Robin Hood, hört noch folgendes: Die Häscher haben Euch nicht alles gesagt. Johann, der Prinz, hat auf Euren Kopf eine Belohnung von einhundert Pfund ausgesetzt, und an alle Sheriffs der Umgegend ist strenger Befehl ergangen, Eurer tot oder lebendig habhaft zu werden, bevor die Ernte eingebracht ist. Deshalb reiten die Söldner in die Dörfer und suchen sie heim." "Wenn es so ist", meinte Robin Hood, "werden noch mehr von den Schergen unterwegs sein, um mich zu fangen. Doch wenige werden sie finden, die mich kennen oder gar mich zu fangen wissen. Aber habt Dank für die Nachricht, und denkt an das, was ich euch vorhin sagte." Die Geächteten verschwanden in der Richtung, aus der sie gekommen waren. Sie brauchten nicht lange zu gehen. Schon nach einer Meile stießen sie auf den Haupttrupp. "Es scheint", begrüßte sie Allin vom Tal, "daß ihr mit einigen Leuten Streit hattet. Ein Haufen Berittener jagte an uns vorbei, als ob der Teufel hinter ihnen her sei." "Das war nicht der Teufel", lachte Little-John, der mit Robin im Dorf gewesen war. "Es war die Angst um ihr jämmerliches Leben. Die Schelme waren gerade dabei, zwei Bauern aufzuknüpfen, die ihnen nichts getan hatten, und da mußten wir ein kleines Exempel statuieren. Doch so heiter war das Erlebnis nicht. Robin wird euch berichten." Es war nicht nur mit dem Bericht getan. Vieles war zu bedenken. Zunächst mußte verhindert werden, daß durch die Willkür Johanns und seiner Häscher wahllos Bauern, nur auf den bloßen Verdacht hin, mit Robin Hood und seinen Leuten zu sympathisieren, an den Galgen gebracht wurden. Zum anderen war der Boden um York für die Geächteten so heiß geworden, daß es geraten schien, schleunigst den Schutz des Sherwoods aufzusuchen. Beides zugleich zu tun, schien unmöglich. Doch dann war es Bruder Tuck, dessen Vorschlag allgemeine Zustimmung fand. In Gruppen zu zweien und dreien sollten die Geächteten zum Sherwood ziehen, etliche von ihnen aber die nächsten zwei, drei Tage noch in der Nähe von Dörfern verbringen, die durch die Suchaktion der Söldner gefährdet schienen. So geschah es dann auch. Der Großteil der Geächteten strebte sofort dem Sherwood zu, während die anderen Schlupfwinkel in der Umgebung aufsuchten. Nicht zu früh, denn bald nachdem sie sich getrennt hatten, kam starker Wind und Regen auf, der den Nebel vom Land wegwischte. In den nächsten Tagen geschah für die Söldner Unverständliches. Überall, wo sie angebliche und wirkliche Gefolgsleute Robin Hoods an den Galgen bringen wollten, bekam der Henker beim Knüpfen der Schlinge einen Pfeil durch die Rippen. Die besten Leute Robin Hoods blieben den Häschern auf den Fersen. Die Absicht Johanns, die Bauern in den Dörfern durch das wahllose Hängen gegen die Geächteten aufzubringen, wurde verhindert; doch nur deshalb, weil die besten Leute Robins zugleich mit den Schergen in den Dörfern auftauchten und fast jeden Henker vom Galgen holten, bevor dieser sein schändliches Handwerk vollbringen konnte. Das sprach sich in Windeseile herum. Bald fand sich niemand mehr, der sich die jämmerlichen Silberlinge verdienen wollte.
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