4. Oktober 2006 Zum Welttierschutztag: Schutz des "Wohlbefindens" der Tiere von Erwin Kessler, Präsident Verein gegen Tierfabriken Schweiz VgT Was kaum jemand zu wissen scheint, auch nicht auf den Veterinärämtern: Das eidgenössische Tierschutzgesetz schützt nicht nur gegen Leiden und Schmerzen, sondern ausdrücklich auch das Wohlbefinden der Tiere (Artikel 1 Absatz 1). In der Umsetzung sieht es ganz anders aus. Da ist nur noch von der Abwendung von offensichtlichen Schmerzen, Leiden und Angst die Rede - und auch davor werden die Tiere oft nicht geschützt mit "Rücksicht" (was für ein scheinheiliges Wort, wenn man empfindsame Lebewesen Qualen aussetzt!) auf die wirtschaftlichen Interessen von Züchtern, Mästern und Tierversuchslabors. Versuchstiere leiden nicht nur in Versuchen angeblich zum Wohl der Menschheit, sie leiden in den Labors auch - medizinisch völlig sinnlos - in der Aufzucht und Haltung in viel zu engen Käfigen. Besonders stark verbreitet ist die qualvolle Haltung von Tieren in der Fleisch-, Eier- und Pelz-"Produktion" aus reinen Profitgründen. Schmerzen und Leiden liegen nach heutiger Vollzugspraxis erst vor, wenn klare Schäden erkennbar sind: Verletzungen oder massive Verhaltensstörungen. Welches Ausmass an seelischen Qualen starken Verhaltensstörungen zugrundeliegen, wird jeder Kinderpsychologe, aber auch jede gute Mutter, ohne weiteres nachempfinden können. Es braucht eine andauernde, grobe Vergewaltigung junger Lebewesen, bis sie Stereotypien oder Apathie entwickeln. Solche Verhaltensstörungen sind in der Nutztierhaltung weitverbreitet: Apathische Kaninchen in Einzelhaltung (typisch in der Rassezucht), die gerne mit "Zahmheit" verwechselt wird, um das Leiden nicht sehen zu müssen; Federnpicken und Kannibalismus bei Hühnern und Truten; Schwanz- und Ohrbeissen bei Schweinen. Dieses blutige Schwanz- und Ohrenbeissen ist kein aggressives Verhalten, sondern Ausdruck qualvoller Langeweile in extrem eintönigen, extrem engen Stallabteilen, wo die Tiere ihr Leben im dichten Gedränge und im eigenen Kot verbringen müssen. Gegen diese unübersehbar tierquälerischen Formen der Nutzierhaltung wird bis heute kaum eingeschritten. Weil sie landauf landab verbreitet sind, gelten sie bei den Vollzugsorganen als "normal". Das Tierschutzgesetz bleibt weitgehend toter Buchstabe, weil der Bundesrat in der Tierschutzverordnung das Tierschutzgesetz völlig verwässert hat und fast alle üblichen gewerbsmässigen Tierquälereien erlaubt. Und die wenigen übriggebliebenen Vorschriften, welche das traurige Schicksal der Nutztiere etwas lindern könnten, werden von den Vollzugsbeamten derart willkürlich-unsachgemäss zum Vorteil der Tierhalter ausgelegt und verbogen, dass schliesslich alles amtlich festgestellt "tierschutzkonform" und die Tiere so gehalten werden können, wie in Ländern ohne Tierschutzgesetz. Gegen diesen gesetzwidrigen Zustand gibt es in unserem Rechtsstaat keine Rechtsmittel. Tierschutzorganisationen haben kein Klage- und Beschwerderecht. Niemand, der sich für den Schutz der Tiere einsetzen möchte, hat ein Recht, gegen tierquälerische Gesetzwidrigkeiten die Gerichte anzurufen. Der Vollzug des Tierschutzgesetzes fällt in die alleinige Kompetenz der Veterinär- und Landwirtschaftsämter von Bund und Kantonen, wo Beamte sitzen, die ihr Amt der Agrolobby verdanken. Der Agrofilz hat die Veterinär- und Landwirtschaftsämter und damit den (Nicht-)Vollzug des vom Volk mit grosser Mehrheit gutgeheissenen Tierschutzgesetzes fest im Griff. Die letzte Ursache für diese Missstände ist die Geringschätzung der Nutztiere durch die "class politique". Blocher, der diesen Begriff geprägt hat, gehört jetzt selber dazu. In einem seiner ersten Auftritte nach seiner Wahl in den Bundesrat forderte er die Abschaffung der Tierschutzvorschriften in der Landwirtschaft; die Bauern wüssten schon selber, wie sie ihre Tiere am besten zu halten hätten. Diese Geringschätzung der Tiere ist unter Politikern weitverbreitet, bis weit ins grüne Lager hinein. Die Grüne Partei der Schweiz gehört zu jenen tierverachtenden Kreisen, welche sich für die Zulassung des grauenhaften, betäubungslosen Schächtens von Kühen, Kälbern und Schafen bei vollem Bewusstsein einsetzten. Die Tierliebe hört bei der grossen Masse der Bürger und Politiker nach dem eigenen Hündchen oder Kätzchen auf. Diese Form grausamer Diskriminierung ist auch in den politischen Lagern verbreitet, welche ständig lautstark gegen Rassismus und Diskriminierung wettern. Dass das theoretisch gesetzlich geschützte Wohlbefinden der Nutztiere in einer derart egoistisch-materialistischen Gesellschaft nicht der Rede wert ist, kann nicht überraschen. Diesem im öffentlichen Bewusstsein nicht existierenden Schutz des Wohlbefindens der Tiere hat der amerikanische Verhaltensforscher Jonathan Balcombe ein ganzes Buch gewidmet: Pleasurable Kingdom - Animals and the nature of feeling Good (Verlag Macmillan, 2006). In eindrücklicher Weise belegt er, dass die Wirbeltiere, zu denen auch wir Menschen und unsere Nutztiere gehören, gerade die elementarsten emotionalen Fähigkeiten mit uns teilen: Freude, Freundschaft, Liebe, Wohlbefinden. Nicht nur Katzen und Hunde lieben es, gestreichelt zu werden, auch Ratten, von vielen immer noch als Ekeltier und Ungeziefer wahrgenommen, sind sensible Tierchen, die untereinander eine Art zärtliches Streicheln pflegen. Schweine sind ausgesprochen sinnliche Tiere. Wenn meine Kinder mit einer Bürste die Schweine striegelten, legten sich diese sofort bewegungslos auf die Seite und schlossen geniesserisch die Augen. Tiere kennen auch ästhetischen Genuss. Es ist ein Irrtum zu glauben, Vögel würden ihren Gesang nicht lieben und geniessen, sondern damit nur das Revier verteidigen. Im heutigen Denken besteht die fatale Tendenz, Verhaltensweisen bei Tieren, die Sinnlichkeit, Liebe, Freude, Freundschaft, Angst und Trauer erkennen lassen, als evolutionäre Funktionalität zur Lebenserhaltung und Arterhaltung abzutun. Dass wir Menschen gerne Sex haben, hat auch den biologischen Grund der Arterhaltung. Daran denken wir aber beim Sex in der Regel nicht. Ebensowenig denken wir beim Geniessen einer Mahlzeit nicht, wir würden eine angeborene Aktivität ausüben, welche vor dem Verhungern bewahren. Das Individuum erlebt Angenehmes und Widerwärtiges losgelöst von der evolutionär-biologischen Bedeutung rein emotional. Das ist bei höheren Tieren nicht anders als beim Säugetier Mensch. Vögel geniessen das Sonnenbaden genau so wie wir; sie betreiben nicht einfach nur funktionale Körperpflege. Wer das einmal begriffen hat, wird das unermessliche Elend in unseren Hühnerfabriken, wo den Tieren Sonnenlicht, Sonnenbaden und das für sie wichtige Sandbaden genommen ist, nicht mehr einfach als Fehlen von Luxus sehen. Wenn Tierhalter, Manager von Grossverteilern und Politiker denken, es mache nichts, wenn den ausgebeuteten Tierfabrik-Hühnern die Federn ausfallen, im Stall seien sie ja vor Kälte geschützt, dann zeigt das eine entsetzliche Gefühlskälte, aber auch eine demokratieverachtende Einstellung gegenüber Volksbeschlüssen (Tierschutzgesetz) und die unsoziale Mentalität, Gesetze nach Belieben zu missachten, solange sich die Betroffenen nicht wehren können. Wohlbefinden? Es sind ja nur Tiere! |