VN 09-1, April 2008

Der Mythos von der tierfreundlichen Schweizer Landwirtschaft

So wird die landwirtschaftliche Tierhaltung der Öffentlichkeit präsentiert:
Schweine von Landwirte Jürg Gerhard an der ZOGA, der Regio-Messe in Zofingen
Die Realität:
Die Schweinehaltung im Stall des gleichen Landwirts in Strengelbach
 (www.vgt.ch/news2007/071029-zoga-strengelbach.htm)

Mit der lesenswerten Broschüre von Avenir Suisse, "Agrarpolitische Mythen",
wagt es endlich einmal eine Institution des politischen Establishments,
Klartext über die Schweizerische Landwirtschaft zu reden.

Kein Wunder, dass der Bauernverband diese Broschüre am liebsten im Papierkorb sieht, wie er verlauten liess, denn sie durchkreuzt die von der Agrolobby systematisch betriebene Desinformation. Viele Konsumenten wollen aus egoistischen Gründen lieber gar nicht wissen, wieviel Elend hinter der sogenannten Tierproduktion steckt, und glauben den Etikettenschwindel mit "Schweizer Fleisch" und die Märchen und Mythen über eine angeblich tier- und umweltfreundliche Schweizer Landwirtschaft noch so gerne, um ihr Gewissen zu beruhigen.

Erstmals hat sich nun eine Institution des Establishments mit einer Broschüre an die Öffentlichkeit gewagt, worin die mit Milliarden Steuergeldern gestützte Landwirtschaftspolitik kritisch durchleuchtet wird. Es wird dargelegt, wie das Wohlwollen, das die Landwirtschaft im öffentlichen Bewusstsein immer noch geniesst, auf zahlreichen Vorurteilen beruht, die durch die ständige, vom Bund mitfinanzierte Agro-Propaganda, genährt werden. Was diese Broschüre aufdeckt, vertritt der VgT zu einem grossen Teil schon lange. Neu ist nur, dass dies nun von der Denkfabrik der Schweizer Wirtschaft - Avenir Suisse (www.avenir-suisse.ch) - vorgebracht wird.

Zitate aus der Broschüre:

Die in der Bevölkerung verbreiteten Vorstellungen und Bilder von der Schweizer Landwirtschaft sind überwiegend positiv. Allerdings sind in der schweizerischen Dienstleistungs- und Wohlstandsgesellschaft immer weniger Menschen mit den Realitäten des landwirtschaftlichen Alltags vertraut.

Die Landwirtschaft steht für Bodenständigkeit und ein hohes Arbeitsethos, für Tradition und Brauchtum und eine besondere, vom Aussterben bedrohte bäuerliche Kultur. Darüber hinaus wird von einer mehrheitlich urbanen Bevölkerung bäuerliche Tätigkeit mit Nähe zur Natur und Gesundheit in Verbindung gebracht, mit einer sinnerfüllten vielseitigen und ganzheitlichen Tätigkeit und einer einfachen und bescheidenen Lebensweise. Mit solchen Bildern hat es auch zu tun, dass ein grosser Teil der Bevölkerung den landwirtschaftlichen Strukturwandel als "Bauernsterben", also negativ wahrnimmt.

Die schweizerische Agrarpolitik ist komplex und für normal interessierte Bürger praktisch nicht überschaubar.

Zwischenbemerkung des VgT:
Und wenn sich ein Bürger bei Landwirtschaftsämtern über die Landwirtschaftssubventionen informieren will, wird er von Chefbeamten im Dienst der Agrolobby gezielt angelogen, wie ein in der vorliegenden Ausgabe beschriebener typischer Fall aus dem Kanton Thurgau illustriert.

Weitere Zitate aus der Broschüre "Agrarpolitische Mythen":

Umso mehr werden die Bilder einer Landwirtschaft, die bei einer Mehrheit der Bevölkerung und der Politiker Sympathie und Verständnis wecken, zur politikgestaltenden Kraft. Die oft wirklichkeitsfremden Vorstellungen einer mehrheitlich urbanen Bevölkerung, verbunden mit der Ablehnung des Strukturwandels, sind mentale Hindernisse auf dem Weg der schweizerischen Landwirtschaft in die Zukunft.

Die erhebliche politische Wirksamkeit des "Mythos Landwirtschaft" zeigt sich in der starken Vertretung von Bauern auf allen politischen Ebenen - nicht nur im Bundesparlament, sondern auch in den kantonalen Legislativen. Dass sich Landwirtschaftsvertreter häufiger zur Wahl stellen, lässt sich mit ihrer Interessenlage begründen, hat sich doch der politische Einsatz bisher ausbezahlt. Der "Mythos Landwirtschaft" verleitet aber offensichtlich die Wählerschaft dazu, Agrarvertreter auch zu wählen.

Dass der "Mythos Landwirtschaft" politisch wirksam ist, zeigt sich auch an der Fähigkeit der Agrarlobby, ihre Interesssen in hohem Ausmass durchzusetzen.

Unter einem agrarpolitischen Mythos verstehen wir ein typisches Muster von Argumenten, die für viele Menschen plausibel und überzeugend sind und mit denen eine gesonderte Behandlung der Landwirtschaft begründet wird.

Mit der Landwirtschaft sind für viele Menschen Bilder eines einfachen und naturnahen Lebens verbunden. Die Frage stellt sich, wie viel solche Vorstellungen mit der oft harten Wirklichkeit einer vorindustriellen Landwirtschaft zu tun haben und wie viel mit Sehnsüchten und Projektionen einer Wohlstandsgesellschaft. Jedenfalls besteht die Gefahr, dass sozialromantisch verklärte Bilder der nichtlandwirtschaftlichen Bevölkerungsmehrheit den Blick auf die praktischen Herausforderungen der heutigen Landwirtschaft verstellen.

Schweizer Landwirtschaft: Kleinbetrieblich aber industriell! Die heutige Landwirtschaft ist grösstenteils eine industrielle Landwirtschaft.

Doch nach welchen Kriterien unterscheidet sich eine "bäuerliche" überhaupt von einer "industriellen" Landwirtschaft? Ist es die Grössse eines Betriebes, bezogen auf die Fläche, den Tierbestand, die Produktionsmenge oder Kapitalinvestitionen? Ist es der Grad der Mechanisierung und Automatisierung?

In der öffentlichen Diskussion in der Schweiz stehen meist zwei Merkmale im Vordergrund, nämlich die Grösse in Hektaren oder von Tierbeständen und die Eigentümerschaft. In der Schweiz will man keine "industriellen Grossbetriebe", sondern "bäuerliche Familienbetriebe". Man setzt also "industriell" mit "gross" gleich und "bäuerlich" mit "Familienbetriebe".  Doch ist ein 500-Hektaren-Betrieb stets industriell und ein 15-Hektaren-Betrieb automatisch bäuerlich? Der 500-Hektaren-Betrieb könnte ja, als Familienunternehmen organisiert, naturnahe Milchwirtschaft betreiben: die Milchkühe sind keine Hochleistungskühe, weiden das ganze Jahr draussen und brauchen kein Zusatzfutter. Dagegen könnte auf dem 15-Hektaren-Betrieb im Lohnverhältnis intensiv Mais angebaut werden und ein Stall mit 20 000 Mastpoulets dazugehören. Der 500-Hektaren-Betrieb könnte in Neuseeland liegen, der 15-Hektaren-Betrieb in der Schweiz.

Familienbetriebe gibt es in den unterschiedlichsten Grössen und Ausprägungen. Mit Kleinheit nach schweizerischen Vorstellungen hat der Begriff jedenfalls nichts zu tun. Selbst in den USA, wo die Flächen- und Produktionskonzentration weit fortgeschritten ist, ist die Landwirtschaft nicht in der Hand von Konzernen. Auch dort wurden im Jahr 2002 zwei Drittel der Flächen von Familien oder Einzelpersonen bewirtschaftet... und nur gerade 8 Prozent von nichtfamiliären Eigentümern wie Aktiengesellschaften, Kooperativen, Konzernen, Staat... Auch in der neuseeländischen Landwirtschaft, die von den Industrieländern am stärksten dem freien Markt ausgesetzt ist und eine hohe Zahl von grossen Betrieben aufweist, dominieren Familienbetriebe.

Die besonderen Agrarstrukturen in der Schweiz sind die Folge einer jahrzehntelangen Politik der Abschottung und der starken Einkommensstützung des Agrarsektors. Es gibt kaum Grossbetriebe, weder was die Fläche noch was die Produktionsmenge angeht. Dennoch ist die Bewirtschaftung als industriell zu bezeichnen, da die menschliche und tierische Arbeitskraft in hohem Ausmass durch Kapital ersetzt wurde.

Klein bedeutet jedoch noch lange nicht naturnah und nachhaltig. Grössere Betriebe können sogar umweltschonender und mit weniger Einsatz von Chemie und Maschinen produzieren als kleine. Die schweizerische Landwirtschaft kann nicht pauschal als "naturnah" und "nachhaltig" bezeichnet werden. Auch sie ist intensiv und hoch mechanisiert.

Schon 1991 schrieb VgT-Präsident Erwin Kessler in seinem Buch "Tierfabriken in der Schweiz - Fakten und Hintergründe":  "Mit einer so erbärmlichen Intensivhaltung von Kühen, Rindern und Kälbern degeneriert auch der traditionelle Bauernhof zur Tierfabrik."

Der konservativ-angepasste Schweizer Tierschutz STS versucht sich immer wieder mit faulen Kompromissen und Beschönigungen des wirklichen Massenelends der Nutztiere beliebt zu machen. Umgehend hat er - zusammen mit dem Bauernverband - diese Broschüre von Avenir Suisse kritisiert. Und im Schweizer Fernsehen SF behauptete der STS, es gäbe gar keine Tierfabriken in der Schweiz und man wolle auch keine solchen, sondern die tierfreundliche bäuerliche Landwirtschaft erhalten - als ob unsere "bäuerliche" Landwirtschaft tierfreundlich wäre! (Siehe dazu den Bericht in der Ausgabe VN 07-3 vom Oktober 2007, im Onlinearchiv: www.vgt.ch/news2007/070307-tierfabriken.htm.)

Weitere Zitate aus der Broschüre "Agrarpolitische Mythen":

Die massive Aufstockung der Direktzahlungen von ursprünglich 0,5 auf die heutigen 2.5 Milliarden CHF erforderte zuhanden der Öffentlichkeit eine möglichst überzeugende Legitimation.

Erhaltung der Lebensgrundlagen: Bei diesem ökologisch bedeutsamen Ziel geht es primär um die Verminderung negativer Einflüsse  aus (agrar-)wirtschaftlichen Aktivitäten. Dies ist jedoch hauptsächlich eine Aufgabe der nationalen und internationalen Umweltpolitik und nicht der Agrarpolitik. Wegleitend sollte das Verursacherprinzip sein. Die Landwirtschaftsbetriebe  müssen wie alle anderen Branchen die Umweltgesetzgebung einhalten.

Wenig zielgerichtete Direktzahlungen: Dazu zählen an erster Stelle die so genannten allgemeinen Direktzahlungen. Dies sind Beiträge pro Flächeneinheit und pro Tier.

Ein Schweizer Landwirtschaftsbetrieb erhält heute im Durchschnitt jährlich mehr als 50 000 CHF.

Das Direktzahlungssystem in seiner heutigen Ausgestaltung weist zahlreiche Mängel auf: Die Direktzahlungen sind wenig leistungs- und ergebnisorientiert. Dies gilt insbesondere für die allgemeinen Direktzahlungen. Diese sind zwar an Auflagen (Umwelt, Tierhaltung) gebunden, doch gehen diese beim grössten Teil der ausbezahlten Gelder kaum über die ordentliche Gesetzgebung hinaus.

Die Bereitschaft der Bevölkerung, die Landwirtschaft mit erheblichen Mitteln direkt zu unterstützen, ist vor allem deshalb gross, weil die Leute glauben, die schweizerischen Bauern seien im Bereich Umwelt und Tierwohl der Landwirtschaft in anderen Ländern deutlich überlegen. Gerade hier fehlen aber vielfach die Fakten, die solche Vorteile überzeugend belegen würden. Der Vorwurf, dass die Bevölkerung nicht genügend informiert wird, ist nicht von der Hand zu weisen. In der Bevölkerung dominieren deshalb weiterhin idealisierte Vorstellungen, die mit den realen Verhältnissen in der schweizerischen Landwirtschaft wenig zu tun haben.

Die diffuse Begründung der Direktzahlungen und des Agrarschutzes mit der Multifunktionalität der Landwirtschaft hält einer kritischen Analyse nicht stand. Die schweizerische "Multifunktionalität" ist nicht viel mehr als ein modernes politisches Konzept zur Legitimation alter Einkommensansprüche. Die auf hohen Direktzahlungen basierende Agrarpolitik verfehlt ihre Hauptziele.

Nahrungsmittel sind in der Schweiz nicht deshalb teurer, weil sie besonders ökologisch produziert werden. Die überwiegende Mehrheit der  Bevölkerung ist aber überzeugt, dass die Schweizer Landwirtschaft im Vergleich zu anderen Ländern besonders umweltschonend und tierfreundlich wirtschaftet.

Seit 1999 muss ein Landwirtschaftsbetrieb für den Bezug von Direktzahlungen den sogenannten ökologischen Leistungsnachweis ÖLN erbringen... Der ÖLN geht aber eigentlich nur bei den Bestimmungen zum ökologischen Ausgleich und zur Fruchtfolge über die ordentliche Gesetzgebung in den Bereichen Gewässer-, Umwelt- und Tierschutz hinaus. Dies kann so interpretiert werden, dass aus agrarpolitischer Sicht die Einhaltung von Gesetzen als ökologische Leistung definiert wird, dh dass für den Erhalt von Direktzahlungen im Wesentlichen eine Einhaltung der Gesetze verlangt wird. In jeder anderen Branche der Volkswirtschaft ist die Einhaltung der Umweltgesetze selbstverständliche Pflicht.

Der ÖLN  ist ein Minimalstandard, der praktisch flächendeckend erfüllt wird. Ein Nachteil solcher Regulierungen ist, dass kein Anreiz besteht, über diesen Standard hinauszugehen.

Als Folge des Verbots, Antibiotika und ähnlliche Stoffe in der Tierhaltung als Leistungsförderer einzusetzen, hat sich der Import von Veterinärantibiotika von 1995 bis 2001  halbiert. Dennoch werden bis heute in der Nutztierhaltung mehr Antibiotika-Wirkstoffe eingesetzt als in der Humanmedizin.

Zwischenbemerkung des VgT:
Dieser hohe Einsatz von Antibiotika erstaunt nicht. Die übliche Intensivhaltung - vor allem von Schweinen und Geflügel - kann keine gesunden, krankheitsresistente Tiere hervorbringen.

Auch bei den Treibhausgasen fördern die Direktzahlungen durch die Stützung der tierischen und pflanzlichen Produktion eher die Emissionen.

Seit 1970 ist der Verbrauch an nicht erneuerbaren Energien in der schweizerischen Landwirtschaft mit der Intensivierung der Produktion um 80 Prozent gestiegen und hat sich seit Anfang der 1990er Jahre konsolidiert. Gleichzeitig ist die Energieeffizienz gesunken; seit 1990 liegt sie bei 0.4. Um 2000 kcal zu erzeugen, werden 5000 kcal nicht erneuerbare Energieträger eingesetzt.

Rechnet man den Ausstoss an Methan und Lachgas in Kohlendioxid-Äquivalente um, war die Landwirtschaft 2005 für 11 Prozent der gesamten Treibhausgasemissionen verantwortlich. Dazu kommt, dass die Ammoniakemissionen zu mehr als 90 Prozent aus der Landwirtschaft stammen. Bedeutsam sind diese, weil sie neben den Stickstoffemissionen aus dem Verkehr die Hauptursache für die hohen Stickstoffeinträge in die Ökosysteme sind. Während die Verkehrsemissionen deutlich zurückgegangen sind, gilt dies nicht beim Ammoniak aus der landwirtschaftlichen Produktion.... In den tierintensiven Gebieten der Ost- und Zentralschweiz müssten die Ammoniakemissionen um bis zu 70 Prozent reduziert werden, um das oben erwähnte tragbare Mass zu erreichen.

Anhand ausgewählter Themen lässt sich zeigen, dass die verfügbaren Indikatoren keine ökologische Überlegenheit der Schweizer Landwirtschaft zu belegen vermögen.

Schweizer Nutztierhaltung: artgerechter und deshalb teurer? Umfragen belegen, dass der Tierschutz in der Schweizer Bevölkerung einen hohen Stellenwert einnimmt. Für die Überlegenheit der Schweizer Tierhaltung werden die angeblich viel strengeren Tierschutzgesetzgebung in der Schweiz sowie die stetige Zunahme der Beteiligung an den freiwilligen Tierhaltungsprogrammen des Bundes RAUS ("Regelmässiger Auslauf von Nutztieren ins Freie") und BTS ("Besonders tierfreundliche Stallhaltungssysteme") angeführt.

Das ursprüngliche Ziel der Direktzahlungen war die Einkommensstützung. Die Umweltziele wurden erst später auf politischen Druck nachgeschoben, allerdings in der Praxis bis heute nicht umgesetzt. Dies erklärt, weshalb sich die agrarbezogene Umweltqualität bis heute nicht nachweislich verbessert hat. Auch die Behauptung, dass besonders strenge Umwelt- und Tierhaltungsvorschriften die schweizerische Agrarproduktion im Vergleich zum Ausland wesentlich verteuern, lässt sich in dieser Form nicht aufrechterhalten.

 

Diese lesenswerte, im NZZ-Verlag erschienene Broschüre "Agrarpolitische Mythen" ist erhältlich direkt bei NZZ-Libro oder im Buchhandel.


Inhaltsverzeichnis VN 09-1

Archiv aller VgT-Nachrichten (VN)

Startseite VgT