VN97-6

Aus dem Thurgauer Volksfreund und dem Thurgauer Tagblatt:

Die Anklage

von Peter Baumann

Das Leben besteht, wie wir alle wissen, aus mehr oder weniger beschissenen Kompromissen. Oder eine Nuance feiner ausgedrückt: aus Verständigungen über Verpflichtungen, wobei in der Regel die Stärkeren den Schwächeren die Vereinbarungen zu diktieren pflegen.

Wer auch immer in der real existierenden Ellbogengesellschaft unserer Endzeit aus Gewissens-gründen konsequent auf Kompromisse verzichtet, läuft mit Sicherheit schnurgerade ins wirtschaftliche, gesellschaftliche oder politische Abseits hinein. Und macht dabei dieselben Erfahrungen, wie seit Menschengedenken fast alle ethisch bewegten Einzelkämpfer.
Doch, meine Lieben, auch hiezulande! Vor allem hiezulande, wo Nonkonformismus des öfteren mit Anarchismus verwechseIt wird und Fundamentalisten jede Kritik an verkalkten Strukturen in pseudo-patriotischer Entrüstung als heimatfeindlichen Akt verteufeln. Und dies besonders vehement stets dann, wenn es sich um Subventionen dreht.

Erstaunlich, dass ein engagierter Tierschützer wie Dr. Erwin Kessler - Präsident des Vereins gegen Tierfabriken - seit vielen Jahren im mehrheitlich konservativen Agrarkanton Thurgau zu «überleben» und heilsame Unruhe im Geiste des hl. Franz von Assisi auch noch in anderen Kantonen auszulösen vermag. Natürlich polarisieren die Aktivitäten des kompromisslosen Ethikers in Stadt und Land. Ueber eines indes herrscht allgemein weitgehend Einigkeit: Der Mann zwingt durch sein Engagement offene Menschen über ihr tier-bezogenes Verhalten nachzudenken.

Das Bezirksgericht Bülach hat Erwin Kessler wegen «Rassendiskriminierung» zu zwei Monaten Gefängnis unbedingt verurteilt, weil er Menschen mosaischen Glaubens beschuldigt, durch rituelles Schächten gleichermassen grausam wie die früheren Nazi-Henker zu sein. Der Vertreter der Israelitischen Cultusgemeinde. Sigi Feigel, bestritt Kesslers Argumente. Schächten, so FeigI, sei nicht grausam, werde aber dessen ungeachtet seit jeher als Trittbrett für Antisemitismus benützt.

In der Schweiz ist das Schächten - Schnitt mit dem Messer durch Halsschlagader und Luftröhre voll empfindungsfähiger Rinder, Kälber und Schafe mit anschliessendem Ausbluten - verboten. Nicht indes der Import von Schächtfleisch. Vom Schächtverbot ausgenommen ist hiezulande das Geflügel. Warum gilt die nunmehr gesetzlich verankerte Definition des Tieres - bislang eine Sache - als empfindsames Geschöpf nicht auch fürs Federvieh? Nun, nachdem Bundesrat Delamuraz, zuständig fürs Veterinärwesen, sich bereits als Liebhaber der qualvoll erzeugten Gänse-Stopfleber (Fois gras) geoutet und mit de Rückweisung der revidierten Terschutzverordnung erneut seine Sensibilität gegenüber der sprachlosen Kreatur bewiesen hat, erübrigen sich solche Fragen.
Uebrigens:Hat nicht ein Rabbi einst Barmherzigkeit auch für Tiere reklamiert: für empfindsame Wesen «die denselben Atem des Lebens vom Ewigen haben? Bedauerlich, dass Sigi Feigel, ein hochgebildeter und feinsinniger Kompatriot, dies nicht vor seiner Anklage bedacht hat.


Inhaltsverzeichnis VN97-6

Startseite

VN97-6, November 1997
Mail an den Verein gegen Tierfabriken Schweiz
Mail an den Webmaster
URL: http.//www.vgt.ch/vn/9706/anklage.htm