VN 09-1
Verding-Kinder
Das
Verding-Kinderwesen in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert -
erschreckende Parallelen zur heutigen Ausbeutung der Nutztiere
von Erwin
Kessler, Präsident VgT
In einer vom Nationalfonds unterstützten
Studie ist dieses dunkle Kapitel der jüngsten Schweizergeschichte
aufgearbeitet und im Buch "Versorgt und vergessen" veröffentlicht
worden (Rotpunktverlag, Herausgeber: Marco Leuenberger,
und Lortetta Selias; erhältlich im Buchhandel). Es wurden die
mündlichen Lebensberichte von über 270 ehemaligen, noch lebenden
Verding- und Heimkindern ausgewertet; vierzig davon sind im Buch
dargestellt - stellvertretend für Hunderttausende von Leidensgenossen,
die über Jahrhunderte als billige Arbeitskräfte ausgebeutet, geschlagen
und nicht selten sexuell missbraucht wurden - oft auch von Leuten, die
sich nach aussen hin streng religiös gaben. Wie Sklaven wurden die
Kinder in der Landwirtschaftspresse ausgeschrieben, vorgeführt und von interessierten Bauern auf ihre Muskeln
hin betastet.
Zitate aus dem Buch:
Verdingte Kinder, das waren junge Menschen, die viel zu oft ein
liebloses und tristes Dasein fristeten, ohne jegliche menschliche
Wärme und Anteilnahme. Diese Kinder standen, verachtet und geächtet,
an letzter Stelle der gesellschaftlichen Rangliste.
... doch das wollte niemand sehen. Lehrer schwiegen, obwohl sie
wie alle übrigen Dorfbewohner das Unrecht sahen. Die Kirche schwieg
und unterstützte dadurch diese fragwürdigen Machenschaften. Das
Bodenpersonal Gottes stellte sich auf die Seiten der Behörden und
Pflegeeltern, obwohl die geistlichen Würdenträger die tatsächlichen
Verhältnisse und Begebenheiten kannten.
Es gab auch Pflegefamilien, die ihre Schützlinge gut behandelten,
das muss fairerweise gesagt sein. Dennoch: Statt einer helfenden
Hand, einem Menschen, der ihnen zugetan war und sie begleitete,
erlebten viele Kinder einen Alltag voller Schläge und Angst. Für die
erlittene Schmach wurde von ihnen auch noch Dankbarkeit erwartet.
Sie kannten nur Diskriminierung, Spott und Schmerz, den ihre kleinen
Seelen Tag für Tag erlitten. Den Kindern wurden so lange
Schuldgefühle eingebläut, bis sie sich für das erlittene Unrecht
tatsächlich schuldig fühlten.; bis sie davon überzeugt waren, eine
normale Kindheit nicht verdient zu haben.
Kinder, die von ihrem Leid erzählten, wurden als Lügner
hingestellt. So schwiegen sie und verloren mit der Zeit das
Vertrauen in die Umwelt. Ihnen blieb oft keine andere Wahl, als bis
zum Schulaustritt und manchmal bis zur Volljährigkeit bei ihren
Peinigern auszuharren. Wenn sie Glück hatten, waren sie danach frei.
Wenn nicht, wurden sie weiterhin entmündigt oder gar weggesperrt.
Wen kümmerte es?
Mangelnde Liebe und Wärme, gepaart mit unmenschlicher Behandlung
in der Kindheit, liess viele Betroffene an ihrem Schicksal
scheitern. Unzählige sahen später keine Zukunftsperspektiven und
nahmen sich das Leben.
Mir wurde - wie vielen meiner Leidensgenossinnen und -genossen -
die Einsicht der Akten mit fadenscheinigen Ausreden verwehrt. Viele
Gemeinden liessen diese Unterlagen einfach verschwinden. Immer noch
gibt es Gemeinden, die die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben und
nicht eingestehen, dass jahrhundertelang grosses Unrecht an Kindern
verübt wurde.
Wir können dieses soziale Drama der letzten Jahrhunderte nicht
ungeschehen machen, aber es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass
sich solche Grausamkeiten nicht wiederholen. Wir sind alle
aufgerufen, der Realität ins Auge zu blicken. Jede und jeder von uns
ist angehalten, Missstände zu melden und anzuprangern. Wo sind die
Menschen, die hinsehen und etwas unternehmen? Frauen und Männer, die
sich einsetzen, sind nach wie vor rar. Wegsehen ist auch heute noch
bequemer, denn Zivilcourage erfordert Mut und kann unbequem sein. Es
gilt hinzusehen und den Finger auf die wunden Punkte zu legen.
Auch wenn die genaue Anzahl der fremdplatzierten Kinder in der
Schweiz nie mehr ermittelt werden kann, muss davon ausgegangen
werden, dass bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus jährlich
Zehntausende von Kindern nicht bei den eigenen Eltern aufwachsen
konnten. Unzählige Waisen- und Scheidungskinder, aber auch
uneheliche und sogenannte milieugeschädigte Kinder wurden von den
Behörden oft einfach abgeholt und ungefragt vorwiegend auf
Bauernhöfe verteilt, oder von verzweifelten, verarmten Eltern
weggegeben. Bei einem grossen Teil dieser fremdplatzierten
Kinder stand deren Arbeitsleistung im Vordergrund.
Aus den Schilderungen von Verdingkindern ergeben sich stereotype
Leidensmuster. In den verschiedenen Biografien treten viele
Missstände oder gar Ungeheurlichkeiten zutage, die aufmerksamen
Zeitgenossen bekannt waren.
Erst mit der Revision des Kindesrechts von 1978 hätte der
gesetzliche Schutz auch für die Verdingkinder gegolten. Bestrebungen
zur Arbeitszeitregelung in der Landwirtschaft setzten indessen erst
spät ein. All die Verstösse blieben Makulatur, zu verschieden waren
die Interessen, zu gross war der Widerstand in landwirtschaftlichen
und hausindustriellen Kreisen gegen einen solchen Eingriff in ihre
persönliche Freiheit. Erschwerend kam für Verdingkinder hinzu, dass
Fürsorgekreise seit der Reformation harte Arbeit für arme Kinder
propagierten. Nicht das Wohlergehen des Kindes, des Individuums,
stand im Vordergrund, sondern das Wohlergehen des Staates.
Die Schicht der Verdingkinder stellte seit der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts sowohl für die Behörden als auch für
landwirtschaftliche Kreise jenes Reservoir dar, aus dem die Lücken
im Dienstbotenstand aufgefüllt werden sollten. Landwirtschaftliche
Kreise interessierten sich stark für die armengenössigen Kinder.
Dies hatte aber weniger mit Wohltätigkeit als mit dem Bedarf an
Hilfskräften in der Landwirtschaft zu tun.
Beklagt wurden dabei [von den Opfern] nicht die verlangte
Arbeitsleistung, sondern physische und insbesondere psychische
Misshandlungen. Nicht von ungefähr zieht sich die mangelnde oder
fehlende Zuwendung wie ein roter Faden durch die Gespräche mit
ehemaligen Verdingkindern.
So gab es Verdingkinder, die den Wohnbereich überhaupt nicht
betreten, sich lediglich im Stall sowie in der Küche aufhalten
durften oder aufs Schlimmste misshandelt und ausgebeutet wurden.
Auch wenn aufgrund fehlender entsprechender Untersuchungen keine
gesicherten Daten vorliegen, scheinen die Verdingkinder zumindest im
20. Jahrhundert vorwiegend in kleineren oder mittleren
Bauernbetrieben platziert worden zu sein.
Die eidgenössische Betriebszählung von 1929 sprach von "grossen
Beständen an Kinderarbeitskräften" insbesondere in kleineren
Betrieben im Kanton Bern, wo Kinder unter fünfzehn Jahren knapp
zwanzig Prozent aller ständigen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft
ausmachten.
Verschiedene Todesfälle und Skandale 1945/46 führten schliesslich
zu einer ersten Wahrnehmung in der Bevölkerung.
"Und einfach immer dieser Hunger, dieser Hunger"
Armin Stutz ist zusammen mit mehreren Dutzend Kindern in einem
Waisenhaus im Kanton Luzern aufgewachsen. Im Waisenhaus herrschte
Zucht und Ordnung. Schläge wurden zur Gewohnheit, und gleichzeitig
wurde jeden Abend der Rosenkranz gebetet. Armin Stutz erinnert sich
genau daran, wie am Morgen das Gesicht der Kinder, die nachts das
Bett nässten, mit den nassen Leintüchern eingerieben wurde.
Betreut wurden die Kinder von Ingenbohl-Schwestern. Eine
davon liess sich von den Knaben befriedigen; der sexuelle Missbrauch
gehörte zur Tagesordnung. "Eine junge Schwester hat uns, wenn wir
einzeln im Zimmer waren, in den Bettchen am Schwänzchen gesaugt. Und
wir mussten ihr unter den Ding fassen. Sie hat die hellen
Strumpfhosen herunter gezogen. An das kann ich mich noch gut
erinnern." Am Sonntag kam jeweils der Pfarrer mit dem Fahrrad oder
der Kutsche, um die Messe zu lesen. "Er hat sich im Zimmer der
Schwestern umgezogen und wir sind schauen gegangen, wenn die Nonnen
und der Pfarrer nackt im Zimmer waren. Mehr sage ich nicht."
Zwischenbemerkung:
An die Stelle der Unterdrückung von Kindern ist heute die Ausbeutung von
Nutztieren durch die Ingenbohl-Schwestern getreten:
Mehr zur Schweinefabrik des Klosters Ingenbohl hier:
www.vgt.ch/vn/0501/StElisabeth.htm
Weitere Zitate aus dem Buch "Versorgt und vergessen" über das
Verdingkind Armin Stutz:
Im Sommer wurden die Kinder in den Erntezeiten [von den
Ingenbohl-Schwestern] barfuss auf die Stoppelfelder geschickt, um
Ähren zu sammeln. Die Kinder, die am meisten sammelten, wurden mit
einem angefaulten Apfel belohnt.
Nach ein paar Jahren wurde Armin Stutz einem anderen Bauern
zugeteilt, bei dem er es noch schlimmer traf. Auch hier litt er
Hunger, obwohl diese Familie alles andere als arm war: Der
Pflegevater war als Gross- und Gemeinderat eine angesehene Person.
"Und einfach immer dieser Hunger, dieser Hunger. Manchmal ging
ich, was ich mich fast nicht zu sagen getraue, wenn die Schweine
gefüttert wurden, zum Schweinetrog hinunter und habe eine Hand voll
Ware hinausgenommen."
Für alles Mögliche benutzten sie ihn als Sündenbock. Wenn etwa
eine Arbeit nicht rechtzeitig zu Ende gebracht werden konnte oder
ein totes Reh die Mähmaschine blockierte, wurde die Wut an Armin
Stutz ausgelassen und er wurde mit der Peitsche geschlagen. "Ich
hatte Striemen über den ganzen Rücken."
Einen Beamten, der einmal zum Rechten geschaut hätte, hat er nie
gesehen. Das Übel war, dass sich der Pflegevater als Waisenvogt
eigentlich persönlich um das Wohl der Verdingkinder in der Gemeinde
hätte kümmern müssen.
Als sich Armin Stutz einmal darüber beklagte, dass ihm einer der
Söhne immer wieder den Pullover mit Sägemehl füllte und versteckte,
erhielt er als Antwort lediglich Schläge. Auch die Schulkameraden
plagten ihn und nahmen ihm beispielsweise seine Butterbrote ab, die
er vom Waisenhaus für gewisse Dienstleistungen erhielt. Und wenn das
nicht mehr möglich war, bekam er als ehemaliger "Waisenhäusler"
einfach eine Tracht Prügel. Armin Stutz hatte es auch in der Schule
nicht einfach. Da er nie Aufgaben machen konnte [bzw durfte], sass
er nach vier Jahren immer noch in der Reihe der Erstklässler.
Während des Unterrichts schickte ihn der Lehrer regelmässig nach
draussen, um sein Fahrrad zu putzen. Andererseits wurde er für jede
Kleinigkeit mit aller Härte bestraft, indem er mit dem Rohrstock auf
die Hände geschlagen wurde oder draussen mit ausgestreckten Armen
während Minuten bewegungslos knien musste. "Und die anderen haben
geklatscht und hatten Freude."
Der nächste Lehrer war fürsorglicher. Dieser hatte erkannt, dass
Armin Stutz zu wenig Schlaf bekam und liess ihn während des
Unterrichts schlafen. Eines Tages im Winter, bezahlte ihm dieser
Lehrer sogar ein Paar Holzschuhe, weil Armin Stutz barfuss in die
Schule kam. Diese Schuhe musste er vor seinen Pflegeeltern
verstecken. Die Arbeit - etwa Viehhüten bei kalter Witterung im
Herbst - wurde barfuss verrichtet, sodass, "sobald eine Kuh
gepinkelt hat, ich die Füsse hingehalten habe." Armin Stutz behalf
sich auch mit alten Lumpen; Socken hatte er nämlich auch keine.
Im Dorf war wohlbekannt, unter welchen Umständen er und das
Mädchen auf dem Hof lebten, doch niemand stand ihnen bei. Armin
Stutz konnte sich auch nie jemandem mitteilen. Ein einziges Mal tat
er es, als er nach den Schulferien vom Lehrer aufgefordert wurde,
seine Ferienerlebnisse in einem Aufsatz niederzuschreiben. Nach
anfänglichem Zögern beschrieb Armin Stutz seinen harten
Arbeitsalltag und die Misshandlungen. Daraufhin konfrontierte der
Lehrer die Familie damit, worauf der älteste Sohn den Knaben halb
tot schlug. Er züchtigte ihn mit dem Lederriemen derart heftig, dass
er ein Wunde davontrug, die sich bis heute immer wieder öffnet.
Jahre später - bei der Rekrutierung - vermutete man, er habe einmal
eine Schussverletzung erlitten. Geändert hat sich nach diesem Vorfall
nichts, aber Armin Stutz schwieg fortan.
Freizeit, Ferien oder Feiertage wie Weihnachten oder Geburtstage
kannte Armin Stutz nicht. Einzig zur Firmung erhielt er von seinem
Firmpaten eine Uhr geschenkt. Die musste er aber sogleich einem Sohn
der Pflegefamilie abgeben. Er sah seine Uhr nie wieder. Geld sah er
nie oder musste es sofort abliefern, wenn ihm jemand etwas
zusteckte.
Kurze Auszüge aus Erlebnissen anderer Verdingkinder:
Hier sass er oft und weinte, wenn ihn das
Heimweh überkam. "Es war einfach so, dass man nicht mehr Kind sein
konnte, man hatte immer eine Arbeit, die man verrichten musste."
Christoph Grädel
denkt, dass die Leute eigentlich gewusst hätten, wie es den
Verdingkindern ergeht, wenn sie es hätten wissen wollen.
Die Nöte des Knaben äusserten sich darin, dass er das Bett nässte.
Immer wieder flüchtete er sich in Traumwelten: "Ich lag oft im Gras
und träumte, ich könne wieder nach Hause zurück." Geholfen haben
Christoph Grädel auch die Tiere. Er hatte Freude am Pferd und an den
Kälbern. Die Katzen kamen zu ihm ins Bett. Einmal bekam eine sogar
Junge in seinem Bett. Ein Erlebnis war ihm besonders in Erinnerung
geblieben: Christoph Grädel und der damals noch auf dem Hof lebende
ältere Verdingknabe W hatten eines Tages beobachtet, wie eine junge
Schwalbe von einem Schwalbenpaar aus dem Nest geworfen wurde. W
sagte darauf zu Christoph Grädel: "Der kleinen Schwalbe geht es wie
uns, wir hatten auch keinen Platz mehr zuhause. Uns haben sie auch
aus dem Nest geworfen." Sie freuten sich dann darüber, dass sie die
junge Schwalbe in einem anderen Nest platzieren konnten, wo sie
angenommen und gefüttert wurde.
Ich hoffte, ich würde da nicht geschlagen wie daheim. Aber als
Verdingbub erhielt er auch dort Schläge. Dazu kam die strenge
Arbeit, die Schule war nur Nebensache. Am Morgen vor der Schule
arbeitete Hans Unglück im Stall. Am Mittag und Abend erledigte er
Arbeiten auf dem Feld, sieben Tage die Woche. Da blieb keine Zeit
für die Hausaufgaben oder gar für Freizeit und Spiel. Waschen musste
er sich sowohl im Sommer als auch im Winter draussen am Brunnen: die
Familie wusch sich drinnen mit warmem Wassser.
Werner Bieri fand bei den Tieren Zuneigung und Trost. Wenn er
traurig war, legte er sich einer Kuh zwischen die Vorderbeine und
liess sich ablecken. Dort war es weich und warm.
"Ich habe oft vor Hunger geweint", sagt Ernst Wessner
rückblickend.
Schulbesuch und Berufslehre galten als Nebensache
Trotz Bundesverfassung liess man die Kinder in ländlichen
Gegenden vielerorts in der Landwirtschaft arbeiten, statt sie zur
Schule zu schicken. Obwohl es schon seit 1847 einen Passus im
Armengesetz des Kantons Bern gab, wonach Pflegeeltern die Kinder zu
regelmässigem Schulbesuch anhalten sollten, wurde auch Jahrzehnte
später häufig nicht danach gehandelt.
Die meisten Befragten sagten, dass die Schule sich nicht darum
kümmerte, wie es ihnen zuhause ging. Trotzdem gab es Lehrpersonen,
die zu helfen versuchten. Es gab solche, die einem Verdingkind die
Schulreise aus dem eigenen Sack zahlten oder deswegen bei den
Pflegeeltern vorstellig wurden. Oder es gab den Lehrer, der einen
von den Pflegeeltern abgerissenen Verband provokativ erneuerte. Die
Schule war entweder ein weiterer Ort der Qual oder sie war ein Ort
der Erholung. Es war möglich, dass ein Verdingkind in seiner
Schulkarriere sowohl einen Lehrer hatte, der Verdingkinder förderte,
als auch einen, der sie diskriminierte.
Dass wenige Verdingkinder die Sekundarschule besuchten und viele
ein Schuljahr repetieren mussten, hatte nicht nur mit mangelnder
Förderung in der Schule zu tun. Sie hatten kaum Zeit für
Hausaufgaben und waren am Abend so müde, dass sie vor Erschöpfung
über dem Buch einschliefen. Arbeitszeiten bis abends um zehn waren
für Verdingkinder keine Seltenheit. Am Morgen mussten sie häufig um
vier oder fünf aus dem Bett. Auch bezüglich der Aufgaben verhielten
sich die Lehrpersonen unterschiedlich. Es gab solche, die ohne
Rücksicht straften, wenn die Aufgaben nicht gemacht waren, und
andere, die ein Auge zudrückten.
Der Kanton Bern hatte bereits 1879 ein Armengesetz in Kraft, das
von den Armeninspektoren verlangte, dass sie mit den Verdingkindern
die Berufswünsche besprechen und sie beraten sollten. Aber
wenige der Befragten konnten ihren Wunschberuf lernen oder
überhaupt nach Schulschluss eine Lehre antreten. Man redete ihnen
ein, sie seien nicht fähig, eine Lehre zu absolvieren. Es war für
die Bauern vorteilhafter, wenn die Verdingkinder zu einem kleinen
Lohn auf dem Hof blieben. Oft bekamen sie gar keinen Lohn, was damit
begründet wurde, dass sie das Konfirmationskleid abverdienten
müssten. Dieser unsägliche Brauch wurde von vielen der Befragten
erwähnt.
Weitere Erlebnisse von Verdingkindern:
Mit zweieinhalb Jahren wurde Elsa Schweizer bei einer
Bauernfamilie im Kanton Solothurn platziert. Wie Elsa Schweizer
später erfuhr, konnte ihre Mutter sie bei den Pflegeeltern zunächst
noch besuchen. Da sich aber die Mutter nach jedem Besuch heftig
weinend von ihr verabschiedete, liess die Pflegemutter den Behörden
ausrichten, die mütterlichen Besuche übten einen schlechten Einfluss
auf das Kind aus. Fortan wurden die Besuche untersagt. Auch ihr
Vater kam zu Besuch, sie durfte aber nicht erfahren, dass es ihr
Vater war. Überhaupt wurden Fragen nach der Herkunft stets
abgeblockt. Auf ihre Frage antwortete der Pflegevater nur: "Das geht
dich nichts an." Elsa Schweizer sagt dazu: "Das ist das Schlimmste,
das man einem Kind antun kann. Da zählen die Schläge gar nicht mehr
so viel. Sondern, dass man die eigene Identität nicht haben darf."
Das Bauernhaus stand direkt neben der Schule, doch es kam immer
wieder vor, dass Emil Weber zu spät kam, weil er im Stall nicht
fertig wurde. Dafür hatte sein Lehrer kein Verständnis und
beschimpfte ihn jedes Mal. Er wurde geohrfeigt und bekam Schläge mit
dem Lineal auf die Finger. Emil Weber hatte Angst vor ihm. Der
Lehrer lachte ihn aus, wenn er etwas nicht konnte, oder er musste
bei der Tür stehen, wenn er zu spät kam. Dabei kannte der Lehrer die
Verhältnisse bei ihm zuhause. Emil Weber bat seine Mutter um Hilfe;
sie solle mit dem Lehrer sprechen. "Aber sie hat sich eben auch
nicht getraut." Die Verdingkinder wurden auch von den anderen
Kindern gequält und tyrannisiert.
Josef Anderhalden: Nach den acht Jahren bei der älteren Frau kam
er zu einem Kleinbauern. Dieser war Kranzschwinger und ein richtiger
Schläger. Josef Anderhalden arbeitete vom Morgen bis zum Abend, vor
und nach der Schule wie ein Knecht. Er hatte immer zu wenig zu
essen. Die Erwachsenen bekamen Käse zu den gekochten Kartoffeln; er
erhielt nur zwei Kartoffeln. Ihm ist auch nicht klar, warum ihn der
Bauer am Sonntag entweder in sein Zimmer oder in den Schweinestall
einsperrte. Die Schläge waren oft so stark, das er kaum mehr gehen
konnte.
Josef Anderhalden besuchte eine Schule, in der Klosterfrauen
unterrichteten. Diese unterstützten den Bauern offensichtlich in
seinem Tun.
Marie Bachmann kam 1941, mit elf Jahren, auf einen
mittleren Bauernbetrieb. Sie wurde wegen jeder Kleinigkeit
geschlagen und getreten. Sie rissen sie an den Haaren und an den
Ohren und traten sie in den Hintern. Ein anderes mal wurde sie von
der Pflegemutter beschimpft anstatt getröstet, als sie am Abend im
Bett weinte, weil sie sich die Hand verbrannt hatte. Marie Bachmann
beklagte sich bei ihrer Mutter, die sie darauf über den Winter
zuhause behielt. Im Frühling 1942 musste sie wieder von zuhause
fort. Auf wessen Geheiss weiss sie nicht.
Vom fünf Jahre jüngeren Sohn der Familie und vor allem von der
Meistersfrau wurde sie in besonderer Weise gequält: Sie nahm ihr
alles weg, was sie bekam oder selbst erarbeitet hatte. "Das tat mir
so weh, dass sie mir alles wegnahm." Die Meistersfrau nahm ihr zum
Beispiel das Geld weg, das sie von Soldaten für den Abwasch erhalten
hatte. Auch einen Schirm, den sie von ihrem älteren Bruder geschenkt
bekommen hatte, nahm sie ihr weg und die Jacke, die sie in der
Schule gestrickt hatte. Wenn ihr die Mutter zu Weihnachten ein
schönes Hemdchen kaufte oder sonst irgendetwas, das war jeweils
sofort weg. Die Pflegeeltern liessen die Mutter auch die Auslagen
für die Schule berappen, obwohl sie wussten, wie arm die Familie
war.
"Ich hatte den ganzen Winter nie etwas zum Anziehen, also zum
Wechseln". Als sie keine Schuhe hatte, um mit der Schule in den
Zirkus zu gehen, schenkte ihr eine Klassenkameradin ein Paar. Das
akzeptierte die Meistersfrau nicht, und Marie Bachmann musste die
Schuhe zurückgeben. Zu wehren wagte sie sich nicht.
Krank oder arbeitsunfähig durfte sie nicht sein. Als sie sich wegen
massiver Rückenprobleme nicht mehr bewegen konnte, liess sie die
Meistersfrau den ganzen Tag ohne Essen und Trinken im Zimmer liegen.
"Da hat sie die Tür zugeschlagen und gesagt, wenn man am meisten zu
tun hat, bleibt sie im Bett. Wenn du etwas willst, musst du
aufstehen", erinnert sich Marie Bachmann. Die Pflegefamilie
erlaubte der Mutter nicht, wegen der Rückenprobleme mit der Tochter
zu einer kostenlosen Konsultation in ein Spital zu gehen. Als die
Mutter mit ihr wegen einer Augenentzündung zum Arzt wollte,
erlaubten sie es ebenfalls nicht. Verbände, die ihr der Lehrer
angelegt hatte, weil sie sich im Turnen die Hände aufgeschürft
hatte, musste sie abnehmen. Es hiess: "So kannst du doch nicht
arbeiten. Nimm das Zeug weg." Für Marie Bachmann galt: "Arbeiten,
arbeiten, arbeiten und nichts vom Leben haben."
Sie hatte zwei Lehrer, die sich ihr gegenüber unterschiedlich
verhielten. Der erste Lehrer, der sie von der fünften bis zur
siebten Klasse unterrichtete, kümmerte sich besonders um die
Verdingkinder und auch um sie. Es tat ihr gut, wenn er sie auf der
Schulreise an die Hand nahm, wenn sie müde war. Er schaute, "dass
die Verdingkinder auch jemand waren". Er war es auch gewesen, der
ihr die aufgeschürfte Hand ein zweites Mal verband, und der
reklamierte, weil man ihr den Verband abgenommen hatte. Der nächste
Lehrer war das pure Gegenteil. Ihrer Ansicht nach liess er sie im
Turnen absichtlich rennen, weil man sah, dass sie keinen
Büstenhalter trug. Er lachte sie zusammen mit den Buben aus, wenn
sie beim Laufen im Wald ins Keuchen kam.
Trotz der guten Schulleistung durfte sie nichts lernen.
Gesetzliche Entwicklung des Pflegekindwesens
Aus der Familie gerissen, als Arbeitskraft missbraucht,
geschlagen, hungrig und überfordert - viele ehemalige Verdingkinder
erzählen von einer Kindheit, deren Erlebnisse sie als Erwachsene
noch lange belasten: Alice Alder wurde an ihrem Pflegeplatz
geschlagen und misshandelt. Sie vermutet, dass die Nachbarschaft die
katastrophalen Zustände kannte, "aber niemand getraute sich, etwas
zu sagen". Eine benachbarte Bauersfrau hatte Mitleid und reichte ihr
jeweils ein Stück Wähe, das sie vor Hunger eilig hinunterschlang.
Die Pflegefamilie von Katharina Klodel hatte einen guten Ruf im
Dorf, nach aussen hin wirkte alles perfekt. Hinter dieser Fassade
verbarg sich jedoch eine traurige Wirklichkeit: Katharina Klodel
wurde geschlagen und musste viel arbeiten.
Wie konnte es soweit kommen, dass diese Menschen solche
Schicksale erdulden mussten? Gab es keine Handhabung zum Schutz der
Kinder? Die Aufnahme von Pflegekindern ist gesamtschweizerisch erst
seit 1978 durch die Pflegekinder-Verordnung geregelt, und es gibt
sowohl in gesetzlicher Hinsicht als auch in der praktischen
Umsetzung der bestehenden Regelungen noch immer grosse Lücken.
Um die Qualität ihrer Pflegeplätze kümmerten sich die Behörden
nicht, sie waren jedoch streng darauf bedacht, jeglichen Kontakt zum
leiblichen Vater zu unterbinden. Als es Doris Gasser später nach
einigen Anläufen 1995 schaffte, endlich Einblick in ihre Akten zu
erlangen, erkannte sie erst, wie sehr sich ihr Vater in ihrer
schlimmen Kindheit um sie bemüht hatte. Die Behörden jedoch hatten
ihn zurückgehalten und ihm den Zugang zu seinen Kindern verwehrt.
Falls jemand in der Verdingfamilie zu Besuch kam, um einen
Augenschein vorzunehmen, wurden häufig falsche Tatsachen und ein
heiles Pflegeverhältnis vorgetäuscht.
Wie in den hier publizierten Biografien nachzulesen ist, erstreckte
sich diese Nachlässigkeit weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts
hinaus: Die zuständigen Vormundschaftsbehörden erkundigten sich
lediglich telefonisch bei den Pflegeeltern, wie es Ernst Fluri ging.
Nicht ein einziges Mal wurde er zu seinem Wohlbefinden befragt.
Nach Ansicht des Bundesrates ist "aus heutiger Sicht weder
ein Bedarf noch eine hohe Dringlichkeit für eine breiter angelegte
historische Studie zur Thematik der Fremdplatzierung von
(Waisen-)Kindern" vorhanden. Und er vertritt die Auffassung, dass
sich
das "föderalistische Pflegekindwesen in der Schweiz bewährt hat".
Weitere Erfahrungen von Verdingkindern:
Neben den Schlägen des Pflegevaters waren für Alice Alder der
Hunger allgegenwärtig. "Das Brot sperrten sie immer weg.
Ein oder zweimal kam der Erziehungsinspektor auf Kontrollbesuch. Da
wurde Alice Alder jeweils ins Wohnzimmer gerufen und gefragt, wie es
ihr gefalle. Die Pflegeeltern waren im Raum anwesend. "Da konnte ich
natürlich nicht sagen, was ich alles durchleben musste."
Die Inspektion war eine Farce. Die Vormundschaftsbehörde wäre für
die Aufsicht zuständig gewesen, tat aber nichts.
Doris Gasser erzählt: "Ich hatte keine Bezugsperson.
Liebe bekam ich von niemandem."
Im Frühjahr 1955 kam Doris Gaser in eine Haushaltslehre bei einer
Pfarrerfamilie. Sie musste schwer arbeiten und wurde ausgenützt.
Ihre Vormundschaft dauerte bis zur Volljährigkeit im Jahr 1960.
Dieses letzte Jahr wohnte Doris Gasser in einer Pension und
arbeitete als Schneiderin in einem Konfektionshaus. Die
Vormundschaft verlangte nun von ihr, dass sie ihre Prüfungskosten
und eine Zahnarztrechnung zurückzahle. Um diese finanzielle
Belastung bewältigen zu können, arbeitete sie zusätzlich während
acht Monaten jede Nacht. Sie nähte Kleider für Privatkunden zu
Spottpreisen. Zu viele Male hatte man ihr gesagt: "Du bist nichts
und wirst nichts werden." Sie nahm vierzehn Kilogramm ab in dieser
Zeit und erlitt kurz vor ihrem 20. Geburtstag ihren ersten
Zusammenbruch.
Eine schwere Krise veranlasste sie 1995, die Bewältigung ihrer
Vergangenheit anzupacken. Sie suchte die Akten, die ihre frühe
Kindheit betreffen. Sie brauchte mehrere Anläufe. Bemühend,
beschämend war es, wie die Amtsvormundschaft sie abwimmeln und ins
Leere laufen lassen wollte. Erst die Hilfe eines Anwalts ermöglichte
ihr nach jahrelangen Bemühungen den unumschränkten Zugang zu ihren
Akten.
1957 wurde Ernst Fluri mit elf Jahren in eine streng religiöse
Bauernfamilie im Kanton Bern verdingt, "einfach weggenommen. Ich
habe mich gewehrt. Aber das ging nicht." Eine Mitarbeiterin der
Vormundschaftsbehörde holte ihn eines Tages ab und brachte ihn
zunächst in ein Aufnahmeheim, wo er allein in ein Zimmer gesperrt
wurde. Nach drei Tagen wurde er an seinen Bestimmungsort gebracht.
Ernst Fluri wurde auf dem Bauernhof physisch und psychisch
überfordert. Er musste gleich viel arbeiten wie der italienische
Knecht, war aber als Kind nicht so kräftig und schnell wie dieser.
Als er einmal beim Heuwenden in Rückstand geriet, beschimpfte ihn
der Grossvater als fuule Siech und meinte, sie bräuchten keine
faulen Leute. "Dann sagte ich: 'Ich kann nicht mehr. Es geht nicht
mehr.' Der Grossvater antwortete darauf: 'Ich kann dir schon Gas
geben, damit du aufholst.' Und dann stiess er mir die Mistgabel in
den Hintern." Ernst Fluri blutete und arbeitete trotz Schmerzen
weiter. Am nächsten Morgen musste er wieder um vier aufstehen und
weiterarbeiten, obwohl er aufgrund der Verletzung noch lange auf dem
Bauch schlafen musste und nicht sitzen konnte.
Ernst Fluri wurde nicht nur auf dem Hof, sondern auch für schwere
Holzarbeiten im Wald eingesetzt. Aus verschiedenen Episoden wird
deutlich, wie oftmals seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt wurde.
Einmal wurde er zum Holzfällen aufgeboten, obwohl er Grippe und eine Lungenentzündung hatte. Geschwächt durch das Fieber vermochte er
nicht schnell genug auf die Warnung vor dem fallenden Baumstamm zu
reagieren und verunfallte. "Es hat mich dann weggespickt. Darauf
habe ich noch Schläge bekommen. 'Hast du wieder geschlafen?' fragten
sie." Er trug einen Knochenriss am Oberschenkel davon, der nicht
behandelt wurde. Das Bein wuchs krumm zusammen, was einen
Hüftschaden zur Folge hatte, sodass er später ein künstliches
Hüftgelenk brauchte.
Ein anderes Mal stand ihm beim Pflügen ein Pferd auf den rechten
Fuss und zerquetschte ihm die Zehen, sodass er abends kaum mehr aus
dem Schuh schlüpfen konnte. Der Schuh war voller Blut. "Man hat die
Zehen ein bisschen eingebunden. Und heute sind sie einfach ein
bisschen verkrüppelt."
Als er später einen weiteren Schwächeanfall erlitt, hiess es
einfach, er solle sich hinlegen. Am anderen Morgen um vier Uhr, nach
einer kurzen Nacht, musste er wieder aufstehen und mithelfen. "So,
jetzt bist du wieder gesund." Eines Morgens kauerte er erschöpft
neben dem Bett und sagte: "Ich kann nicht mehr. Ich bin kaputt. Es
geht nicht mehr. Jetzt ist fertig." Er war so verzweifelt, dass er
von Selbstmord sprach. Doch der Pflegevater übergoss ihn mit kaltem
Wasser und sagte, jetzt sei er sicher wach. Er befahl ihm aufzustehen
und nicht mehr "solchen Quatsch" zu erzählen.
Viereinhalb Jahre blieb er in der streng religiösen Pflegefamilie.
Ernst Fluri war auf dem Bauernhof von der Welt abgeschnitten: "Ich
konnte nie mit jemandem über meine Probleme sprechen. Ich war
einfach vier Jahre allein. " Sein einziger Freund in der Schule war
ebenfalls ein Verdingbub, der jedoch plötzlich nicht mehr da war. Er
hatte sich bei einem Fluchtversuch verletzt und war
querschnittgelähmt.
Alle Verdingkinder, die umgekommen sind oder sich das Leben nahmen,
stehen logischerweise heute nicht mehr als Zeugen zur Verfügung.
Die Mutter hatte kein Geld, um ihrem Sohn bei ihren seltenen
Besuchen etwas mitzubringen. Sie sagte: "Schau, ich muss jeden Monat
400 Franken zahlen für dich. Ich hätte es billiger, wenn du zuhause
wärst." Geburtstage wurden nicht gefeiert; seine Mutter schickte ihm
aber jeweils eine Karte und gratulierte ihm. Der beigelegte Batzen
wurde ihm von der Pflegefamilie abgenommen.
Ernst Fluri kann das Verhalten der Vormundschaftsbehörde heute noch
nicht verstehen. Sie hatte über das Schicksal eines Kindes
entschieden, aber keine Kontrolle ausgeübt. Während seines
Aufenthalts in der Pflegefamilie sei nicht einmal mit ihm gesprochen
worden und die Missstände seien nicht kontrolliert worden, obwohl
seine Mutter immer wieder vorgesprochen hatte. Die Behörden hätten
lediglich auf dem Hof angerufen und sich nach dem Befinden von Ernst
Fluri erkundigt. Die Bäuerin hätte daraufhin geantwortet: "Ja, es
geht ihm gut." Ihn selber habe man nie gefragt, wie es ihm gehe.
Eines Nachts wurde sie unsanft aus dem Bett gerissen und vom
Pflegevater verprügelt, weil sie die ganze Nacht hindurch geweint
hatte.
Im Dorf hatte die Familie einen guten Ruf, da sie sich durch den
Verdienst des Vaters und aus dem Landwirtschaftsbetrieb ein Auto
leisten konnte.
Nach Abschluss der Schule musste Katharina Klodel eine
Schneiderlehre antreten, obwohl sie viel lieber eine Lehre als
Coiffeuse gemacht hätte. Von ihrem Lehrgeld bekam sie nicht einmal
das obligatorische Taschengeld, die Pflegefamilie nahm alles an
sich. Zusätzlich bekam die Familie für die zweieinhalb Lehrjahre
zehntausend Franken ausbezahlt.
Nach der Lehrzeit trat Katharina Klodel eine Stelle als
Damenschneiderin an. Den Lohn musste sie gegen ihren Willen zuhause
abgeben. Die Pflegemutter meinte, das sei ganz normal, sie sei doch
wie ein eigenes Kind.
Aus den Lebensberichten der Betroffenen geht hervor, dass die
bevorstehende Fremdplatzierung mit den Kindern in der Regel nicht
besprochen wurde. Häufig wurden die Kinder durch diese abrupten
Platzierungen traumatisiert.
Nelly Haueter berichtet, dass sie und ihr jüngerer Bruder in
einer "Nacht- und Nebel-Aktion" weggeholt worden seien: Sie aus der
Schule und der Bruder aus dem Kindergarten. Die beiden Geschwister
wurden in verschiedenen Pflegefamilien platziert und im Glauben
gelassen, bald wieder zu den Eltern heimkehren zu können.
Nelly Haueter erinnert sich, dass ihr Vormund einmal im Jahr bei der
Pflegefamilie erschienen sei, ohne je einmal mit ihr zu sprechen.
Bei den Pflegeplatzinspektionen liessen sich die Vormünder von
den Pflegeeltern häufig etwas vormachen, gaben sich mit deren
Auskünften zufrieden und liessen sich in der Stube bewirten, statt
mit den schutzbefohlenen Kindern zu sprechen und deren Meinung und
Anliegen anzuhören.
Immer wieder zeigte sich, dass Beamte und Gemeinderäte sich häufig
nur in den krassesten Fällen für Pflegekinder einsetzten, da sie die
Feindschaft einflussreicher Personen im Dorf fürchteten.
Verdingkinder waren das schwächste Glied in der Gesellschaft, ihren
Anliegen und Bedürfnissen wurde kein Gehör geschenkt.
Der Pflegevater war der reichste Bauer weit und breit. Er war
Schulkommissionsmitglied wie auch die Pflegemutter und er war
Gemeindepräsident, Störmetzger, Jäger und Jagdverbandspräsident. "Er
tat alles, was Gott verboten hat." Auf dem Hof arbeitete er kaum
mit. Er war der "reinste Tyrann und Sklaventreiber". Alle auf diesem
Bauernhof litten unter ihm, auch seine Frau, sein Sohn und die
Knechte.
Der sechs Jahre ältere "grundanständige" Sohn war für Nelly Haueter
Trost und Hilfe. Er stand für sie ein, stellte sich vor sie hin und
steckte sogar an ihrer Stelle Schläge ein. Mit 22 Jahren nahm er
sich das Leben.
Ihre Schlafkammer lag im Hausteil, wo die Knechte schliefen. Hier
gab es weder Licht noch Wärme. Vom ersten Tag an nässte Nelly
Haueter all die Jahre durch jede Nacht das Bett. Jeden Morgen
erhielt sie zur Strafe mit dem Zwiesel, einem Lederriemen oder einem
vierfachen Seil Schläge auf den nackten Hintern, manchmal auf die
Bank gefesselt.
Entwurzelung, Isolation und Schweigen
Durch die Einnahmen des Kostgeldes und den Erhalt einer gratis
Arbeitskraft waren Verdingkinder als Gesinde lukrativer als
erwachsene Knechte oder Mägde.
Die meisten Verdingkinder kämpften nicht nur mit der Isolation
und fehlenden Liebe in der Pflegefamilie, sondern auch mit der
bewusst gesteuerten Abkapselung von der Aussenwelt. Der Kontakt zu
den leiblichen Eltern, zu den Geschwistern und zum Dorf wurde nicht
selten unterbunden. Die Pflegeeltern versuchten zu verhindern, dass
ihre zum Teil schwere Misshandlungen, die Gewalt, die ungenügende
Pflege, die zu harte Arbeit oder der Hunger der Kinder nach aussen
gelangten.
Mit den Kindern wurde oft nur gesprochen, um Arbeitsanweisungen
zu geben oder um sie verbal herabzusetzen. Schweigen ist ebenfalls
eine Form der Machtausübung durch Sprache, nämlich das bewusste
Entziehen derselben. Das Schweigen war ein wirkungsvolles Mittel, um
die Isolation und das Gefühl der Entwurzelung bei den Kindern zu
verstärken. So wurden Verdingkinder mit einem Sprechverbot belegt.
Sie durften mit niemandem sprechen, auch nicht mit den Angestellten.
Die Kinder wurden auch zum Schweigen über ihnen angetanes Leid
angehalten. Um die Einhaltung des Verbotes sicherzustellen, drohten
die Täter den Kindern mit weitreichenden Strafen.
Bei Kontrollbesuchen des Vormundes mussten sie sich schön anziehen
und manchmal auch ein anderes Zimmer als das ihre ausgeben. Um
sicherzugehen, dass die Kinder schwiegen, waren die Pflegeeltern bei
den Besuchen zugegen. Alice Alder sagt: "Da konnte ich natürlich
nicht sagen, was ich alles durchleben musste."
Nicht nur die Betroffenen und Pflegeeltern schwiegen. Immer
wieder erfuhren Verdingkinder Jahre später, dass auch die
Dorfbewohner geschwiegen hatten. Waren die Pflegeeltern in der
Dorfgemeinschaft angesehen, so liess die soziale Stellung allfällige
Kritik verstummen.
Für viele ehemalige Verdingkinder war es schwer, ihr Schweigen zu
brechen, einen Weg aus der Isolation zu finden und sich wieder an
einem Ort niederzulassen. Viele blieben entwurzelt und suchten ein
Leben lang nach Wegen, um das Erlebte zu verdrängen, zu vergessen
oder zu verarbeiten.
Als sie sechzehn Monate als war, nahm ein Pfarrerehepaar Heidy
Hartmann in Pflege.
Die Bestrafung für Regelverstösse fielen unterschiedlich aus. So
erhielt Heidy Hartmann zum Beispiel eine ganze Saison Badeverbot,
weil sie vergessen hatte, ihre Badehose aufzuhängen. Für Schläge
musste sich sich jeweils ausziehen und niederknien. Die Folgen der
Schläge mit einem Messingmassstab sind noch heute auf Röntgenbildern
sichtbar.
Heidy Hartmann hatte kein eigenes Kinderzimmer. Sie erhiel eine
Abstellkammer auf dem Dachboden zugewiesen. Der Weg dorthin war für
das Mädchen jedes Mal ein Qual: Es hatte fürchterliche Angst.
Aber nicht die Schläge machten dem Mädchen am meisten zu schaffen,
sondern die seelischen Qualen. "Dieses Ausgeschlossensein, kein
Körperkontakt ausser Schlägen!"
Erst als sie als Erwachsene in die Gemeinde zurückkehrte, gestand
ihr eine ehemalige Vormundschaftsmitarbeiterin, dass es alle gewusst
hätten, aber niemand etwas gegen den Pfarrer habe unternehmen
wollen.
"Dann musste ich die Hosen herunterlassen, den Teppichklopfer
abhängen, und in einer finsteren Kammer, in welcher nur Stroh war,
neben dem Pferdestall, hat sie mich ausgepeitscht."
Alfred Ryter wurde, nicht ganz achtjährig,
verdingt. Abends wurde er in
die Tenne ohne Licht und ohne Toilette geworfen. Ein altes Sofa,
Säcke und alte Wolldecken waren sein Schlafort. Er litt furchtbar
unter der Trennung von seinen Eltern und Geschwistern. Er wehrte
sich vergebens, wenn sie ihn am Abend da hineinwarfen. "Ich habe mich
gewehrt, geheult, aber ich hatte keine Chance gegen sie." Er flehte,
weinte und trat mit den Füssen ans verschlossene Tenntor. Nicht
selten erwachte er am Morgen kniend oder liegend hinter dem Tor.
Hunger war von nun an sein ständiger Begleiter. Um den Hunger zu
stillen, ass er Hühnerfutter. Alfred Ryter fragt sich heute: "Warum
hat sich niemand um uns gekümmert? Der Lehrer oder die Nachbarn
hätten doch hören oder sehen müssen, dass wir schwer litten und
verwahrlosten. Niemand machte sich etwas aus uns. Warum macht man so
etwas mit einem Kind? Warum tat man uns das an?"
Am Morgen wurde er vom Bauern geweckt, und wenn er von der
Stallarbeit zurückkam, bekam er von der Bäuerin ein Stück Brot
und eine Tasse verdünnter MIlch. Zum Mittagessen wurde er nicht
gerufen.
Zur Bestrafung erhielt der Knabe neben Schlägen noch weniger zu
essen. Er magerte stark ab. "Ich war nur noch ein Hämpfli."
Irgendwann leistete er keinen Widerstand mehr. Er liess alles über
sich ergehen.
Nur am Sonntagnachmittag musste der Knabe nicht arbeiten. Dann wurde
er in die Tenne eingesperrt, bis er am Abend erneut zur Arbeit
geholt wurde. An Ostern suchten die Kinder mit viel Freude ihre
Osternester. Auch Alfred Ryner hoffte auf ein Nest. "Ich hatte aber
bis zum Mittag die Hoffnung nicht aufgegeben, dass der Osterhase
mich doch nicht vergessen hatte. Aber er hatte mich vergessen!" An
Weihnachten erging es ihm nicht anders.
... Dann nahm sich auch sein zweiter Bruder das Leben.
In den Lebenserinnerungen ehemaliger Verdingkinder kommen viele
Vormünder und Beistände vor, die ihre Macht missbrauchten und die
Diskriminierung der Kinder noch verstärkten. Auch Lehrer und Pfarrer
schauten weg oder unternahmen wenig, um die Misere zu beenden. Diese
Autoritäten, die gebildeter waren als manche Pflegeeltern im
bäuerlichen Milieu, wussten, was Kinder brauchen, um sich zu
eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten
entwickeln zu können, zumal dieses Wissen damals längst vorhanden
war.
Einmal im Jahr kamen Vertreter der Fürsorgebehörde auf den
Bauernhof und inspizierten den Pflegeplatz. Da sie sich jeweils
anmeldeten, musste Christine Hauser ihre Habe in ein Zimmer bringen,
in dem es elektrisches Licht gab. Die Gäste wurden gut bewirtet. Sie
sagten zu Christine, sie solle dankbar sein, dass sie es "so gut
getroffen" habe. Wenn die Inspektoren vom Hof verschwunden waren,
brachte sie ihre Sachen wieder in die Kammer zurück. Nie fragte
einer von ihnen, wie es ihr gehe. Es interessierte sie nicht.
An Weihnachten musste sie im kalten Zimmer bleiben und hören, wie
die anderen untern sangen. Sie bekam kein Geschenk, gar nichts. Die
Schokolade, die ihr die Tante geschickt hatte, wurde ihr
weggenommen.
Jeden Freitag versammelten sich die Mitglieder der Heilsarmee im
Haus der Pflegefamilie. Es waren zehn Gäste, die "Halleluja" sangen.
Resi Eggenberger hasste die "Siechen".
Einmal schenkte ihr die Mutter ein paar Würstchen, die sie freudig
nach Hause brachte. Die Pflegemutter aber schlug sie blau deswegen,
weil die beiden Verdingkinder die strikte Anweisung erhalten hatten,
von niemandem etwas anzunehmen und mit niemandem zu reden. Die
Würstchen verschwanden in der Vorratskammer. Auch grosse Geschenke,
die sie von ihrer leiblichen Mutter erhielt, wie etwas eine Skihose
und einen Davoser Schlitten, durfte sie nicht behalten.
Die Familie, die Roger Hostettler aufnahm, gehörte einer strengen
evangelischen Religionsgemeinschaft an. Der Knabe brachte die
frommen Bibelsprüche mit dem Verhalten ihm gegenüber nicht in
Einklang: "Man betete immer. Am Sonntagmorgen ging man in die
Kirche, am Sonntagnachmittag ins Sektenlokal. Andererseits liessen
sie mich arbeiten bis zum Gehtnichtmehr." Roger Hostettler ersetzte
als Verdingkind den Knecht. Der Knabe musste selbst dann schuften,
wenn er krank war. Als er einmal starkes Fieber hatte, befahlen ihm
die Pflegeeltern, den Stall zu misten, bevor er sich in der
ungeheizten Kammer ins Bett legen durfte.
Ein gutes Verhältnis hatte der Knabe mit den Tieren, vorallem mit
dem Hofhund.
Als Franz Buschacher sechs Jahre alt war, starb seine
Pflegemutter. Er wurde mit anderen Verdingkindern an eine
Versammlung in der Gemeinde gebracht. Die Bauern betasteten die
Kinder, um zu erkunden, wie kräftig sie waren. Dann wählten sie die
Stärksten aus. Franz Buschacher war schmächtig. Niemand wollte ihn.
Er blieb bis zum Schluss übrig. Schliesslich nahm ihn der Weibel der
Gemeinde mit, der auch noch einen Hof bewirtschaftete. Franz
Buschacher erinnert sich, wie der Bauer sagte: "Der ist ja nichts
wert, der kann ja nicht arbeiten, aber ich nehme ihn mit, den lehre
ich arbeiten." Über dem Hühnerstall bekam der Sechsjährige eine
Kammer. Zum Schlafen diente ihm eine Strohmatte. Die Kammer war voll
Ungeziefer und im Winter eisig kalt. Am Morgen musste der Knabe um
fünft Uhr aufstehen und auf dem Hof arbeiten. Für Schulaufgaben fand
er keine Zeit. Der Lehrer schlug ihn und liess ihn nachsitzen. Kam
der Knabe dann zu spät nach Hause, erhielt er nochmals Schläge. Der
Bauer verprügelte ihn im Saustall mit einem Seil, bis er blutete und
nicht mehr sitzen konnte.
Einmal zeigte Franz Buschacher dem Dorfpolizisten seine schweren
Verletzungen. Der Polizist drohte dem Gemeindeweibel mit einer
Anklage. Der Weibel musste bestätigen, den Knaben nicht mehr zu
schlagen, liess sich das aber nicht bieten. Er nahm Franz
Buschacher zum Gemeindepräsidenten mit und beklagte sich, den Bub
nicht mehr strafen zu dürfen. Der Gemeindepräsident anerbot ihm,
dass er den Buben in Zukunft zur Züchtigung zu ihm bringen könne,
und stellte so die alte Ordnung wieder her.
Sein Wunsch als Kind war es, dass ihn jemand hole oder dass er am
Morgen nicht mehr aufwache. Immerhin hatte er es geschafft, dem
Druck der Frau in einer Hinsicht nicht nachzugeben: Er hat sie nie
Mutter genannt, was sie ihm übelnahm und wofür er Schläge bekam.
"Geohrfeigt und an den Haaren gerissen, bis sie nicht mehr konnte.
Dann musste es ihr Sohn machen.
Am Sonntagnachmittag hatte der Knabe frei, doch mit anderen
Kinderen spielen durfte er nicht. "Ich bin nur herumgesessen und
habe geweint und einfach "schaurig" Heimweh gehabt, und kein Mensch
hat sich um mich gekümmert.
Dem Knaben wurde lange erfolgreich eingebläut, dass er bei Besuchen
der Behörden oder der Eltern sagen solle, es ginge ihm gut und er
müsse nicht arbeiten.
Widerstand, Flucht und Momente des Glücks
Das gemeinsame Element aller Erzählungen ist das Gefühl des
Ausgeliefertseins: nicht über seine Lebensumstände bestimmen zu
können und ungenügend oder gar nicht darüber informiert zu sein.
Dies begann meistens bereits mit der ersten Fremdplatzierung. Viele
Kinder wurden erst am Tag der Verdingung oder gar erst nach
Eintreffen am Verdingort über die neue Lebenssituation informiert.
Martha Knopf wurde jeweils ohne Vorwarnung vom einem Ort
weggeholt und an einen neuen gebracht. Die genauen Umstände und
Gründe für die Umplatzierung erfuhr das Mädchen nicht.
Die Reaktion auf diese oftmals als kaum tragbar erlebte Situation
war unterschiedlich. Während sich einige Kinder offen dagegen
auflehnten, passten sich andere der Situation an und entschlossen
sich , bewusst oder unbewusst, auszuharren. Auf alle Fällen mussten
sie einen Umgang mit der Situation finden, um nicht daran zu
zerbrechen. Die Hoffnung auf die Volljährigkeit und die damit
verbundene Freiheit half ihnen dabei.
Herbert Rauch flüchtete in einer Winternacht nur mit dem
Nachthemd bekleidet vor einer drohenden Bestrafung. Er musst aber
wegen der eisigen Kälte und mangels Alternativen wieder
zurückkehren.
Bei Johann Rindisbacher zieht sich die physische Flucht durch
seine gesamte Kindheit bis ins Erwachsenenleben. Er lief wegen
schlechter Behandlung bei den Bauern weg, wurde aufgegriffen und kam
an einen neuen Ort. Dies wiederholte sich einige Male. Schliesslich
wurde er in einem Erziehungsheim untergebracht. Auch dort fand er
einen Fluchtweg. Als er neuerlich aufgegriffen wurde, kam er vor
Gericht. Es folgte das Jugenderziehungsheim, ein erneuter Ausbruch
zusammen mit anderen Jugendlichen, dann das Gefängnis, erneute
Flucht, und schliesslich das Zuchthaus. Johann Rindisbachers
Hilfeschrei wurde von den Verantwortlichen nicht gehört. Stattdessen
wurde er mehr und mehr kriminalisiert, weil er während der Flucht
Lebensmittel gestohlen hatte, um nicht zu verhungern.
Die Flucht vom Verdingort ohne konkretes Ziel war meist nicht von
Erfolg gekrönt.
Neben diesen spontanen Fluchtversuchen baten einige Kinder
aussenstehende Erwachsene um Hilfe. Martha Knopf vertraute sich
Dorfbewohnern an und erreichte so eine Umplatzierung. Aber auch
diese Strategie führte nicht immer zum Erfolg. Johann Rindisbacher
zum Beispiel vertraute sich dem Pfarrer an. Doch dieser wandte sich
an die Pflegeeltern des Knaben, was Schläge zur Folge hatte. Eine
Veränderung der Situation erreichte er aber nicht.
Eine weitere tragische Form der Flucht war schliesslich der
Selbstmord. Die Zahl jener, die sich als junge Menschen das Leben
nahmen, ist nicht unbedeutend.
Für Herbert Rauch waren Schläge an der Tagesordnung. In einem
Wutanfall schlug ihm der Bauer eines Tages mit einer Hacke den Kopf
blutig. Es kam auch vor, dass Herbert Rauch an einen Pfosten
gebunden und mit einem nassen Seil geschlagen wurde. Die
Familie gab sich gegen aussen streng gläubig.
Dass er ein Verdingbub gewesen war, hat Herbert Rauch in seinem
ganzen Leben immer wieder in verschiedensten Situationen zu spüren
bekommen. An einer Klassenzusammenkunft sprach niemand mit ihm; er
wurde einfach ignoriert: "Dann bin ich aufgestanden, habe bezahlt
und gesagt: "Ich komme nicht mehr."
Johann Rindisbacher erledigte alle ein einem
Landwirtschaftsbetrieb anfallenden Arbeiten. Wenn es viel zu tun
gab, ging er nicht zur Schule. Darauf reagierten aber weder Lehrer
noch Behörden, da sie diese Behandlung guthiessen.
Rosmarie Schmid weiss nur, dass sie halbjährig war, als ihr
erster Pflegevater sie und eine Kuh, die er gekauft hatte, nach
Hause brachte. Viel später erfuhr sie, dass sie damals im
"Schweizerbauer" ausgeschrieben war.
Es ist traurig, wie viele dunkle Kapitel
der Geschichte sich auf die gleiche Stufe stellen lassen - bis in die
Gegenwart: Indianer-Ausrottung, Sklavenhandel, Hexenverbrennung, Juden-
und Zigeunerverfolgung, das Verding-Kinderwesen und das heutige
Massenverbrechen an den Nutztieren. Im Unterschied zu historischen
Ereignissen ist aber bei der Ausbeutung der Nutztiere nicht die Rede von der Vergangenheit;
es ist ein Massenverbrechen, das hier und jetzt mitten unter uns abläuft
- von den Behörden toleriert, von Nachbarn und der Öffentlichkeit
durch Wegschauen und Verdängen überhaupt erst ermöglicht.
Besonders die Paralellen
zwischen Sklavenhaltung, Verdingkindern und Tierhaltung ist erschütternd.
Die Geschichte wiederholt sich geradezu. Bei allen diesen
Massenverbrechen geht es um die landwirtschaftliche Ausbeutung von
Wehrlosen mit immer den gleichen Rechtfertigungen: Minderwertigkeit der
Unterdrückten und Ausgebeuteten und angeblich wirtschaftlicher
Notwendigkeit.
Die Charaktermängel, welche solches Elend ermöglichen
sind immer die gleichen: feiges, egoistisches Wegschauen, Vedrängen und
Rechtfertigen mit haltlosen Behauptungen und Ausreden.
Das Verding-Kinderwesen ist
auch in einem anderen, schon im Jahr 2004 erschienenen Buch dargestellt:
"Gestohlene Seelen - Verdingkinder in der Schweiz"
von Lotty Wohlwend und Arthur Honegger, Verlag Huber.
Ausschnitt daraus:
Ein Fall, der damals
an die Öffentlichkeit gelangte:
Februar 1945: auf einem abgelegenen Gehöft in Frutigen verlangte man
nach einem Totenschein für ein verschiedenes Pflegekind. Als der Arzt
die Leiche sah, weigerte er sich, den Totenschein für den erst
fünfjährigen verstorbenen Knaben auszustellen. Die medizinische
Obduktion ergab schliesslich einen "typischen Fall von
Kindsmisshandlung mit tödlichem Ausgang: starke Abmagerung,
Unterernährung (der Knabe wog lediglich 13 Kilogramm), am Hals ein
grosser eitriger Abszess, die Kleider voller Eiter. An den
Fingerbeeren Frostbeulen, die Haut war weg, der ganze Körper mit
Striemen übersät." Später wurden in der Lunge des Knaben Schaumblasen
festgestellt, Zeichen einer offenbar ausserordentlichen Erregung. Im
Haus, wo das Kind untergebracht war, fand man auf dem Hofplatz und im
Hauseingang Blutspuren. Das Pflegeehepaar genoss in der Gemeinde
Frutigen einen guten Ruf. Die Frau war 22, der Mann 30 Jahre alt.
In diesem Fall wurde deutlich, mit welcher "Sorgfalt" Verdingkinder in
der Praxis der Landgemeinden versorgt wurden. Mehrere gesetzlich
bereits vorgeschriebene Schritte wurden unterlassen: Keine
Begutachtung des Pflegeplatzes, keine spätere Kontrolle, keine
Überprüfung der Pflegeeltern, niemand begleitete das Kind dorthin. Der
Grund gemäss Rechtfertigungsschreiben: Sozusagen niemand war über die
gesetzlichen Grundlagen orientiert.
Die
angepassten, korrekten und netten Herzlosen
Heute ist viel von
"Sozialkompetenz" die Rede, worunter oft angepasstes, korrektes,
konventionsgemässes Verhalten verstanden wird. Dadurch werden die Menschen nur allzuleicht zu Mitläufern
und leicht auch Mittätern bei Massenverbrechen. Gemäss dem bekannten
Konfliktforscher Erwin Staub haben sich im Zweiten Weltkrieg vor allem
unangepasste, "sozial inkompetente" Menschen gegen die Nazis gestellt, die
sozial angepassten Menschen verhielten sich gemäss dem damaligen
politischen Mainstream korrekt.
Stalin war bekannt für seine einnehmende
Art und seinen liebevollen Umgang
mit Kindern, auch wenn er kurz davor ihre Eltern umgebracht hat.
(Quelle: Allan Guggenbühl: "Alle haben sich so lieb", Weltwoche vom 15. Januar 2009).
Provokationen sind ein wichtiges Mittel,
Tabus aufzubrechen und festgefahrene Auffassungen zu hinterfragen. Mit meinen Provokationen habe ich das Tabu,
das jüdische Schächten zu kritisieren, gebrochen - mit zwei Konsequenzen:
Ich wurde deshalb zu Gefängnis verurteilt, habe aber die vom Bundesrat
geplante Aufhebung des Schächtverbotes verhindert. Das Thema Schächten
bleibt aber leider weiterhin auch in der Schweiz aktuell, weil der
Bundesrat das gesetzliche Schächtverbot nun einfach mit Import-Privilegien für
Schächtfleisch umgeht, womit das Schächtverbot zu einem grossen Teil
illusorisch wird.
"Bitte senden Sie uns
Ihre Zeitschrift nicht mehr, ich kann sie vor Ekel kaum je lesen und
unsere Tochter, die Tierärztin werden möchte, weinte schon, als sie eine
Ausgabe erwischte." Zuschriften wie diese erhalten wir immer wieder. Oft
werden die Kinder vorgeschoben, um das Wegschauen zu rechtfertigen. Man
"ekelt" sich zwar, man ist ja ein guter Mensch, der Tierquälerei
ablehnt, aber möchte nicht informiert werden und bestellt die
Zeitschrift lieber ab, als sie weiterzugeben oder jemand anderem in den
Briefkasten zu werfen, der vielleicht Aufklärung nötig hat. Wegschauen, geht mich nichts an, die Tierschutzvereine sollen
gefälligst dafür sorgen, dass Missstände beseitigt werden. So denken
sie, die Korrekten, Freundlichen, Netten, Angesehenen, Gläubigen und Gutmenschen, die vielen Stalins, welche Massenverbrechen
ermöglichen, statt mithelfen, sie zu verhindern. Früher waren es die Massenverbrechen an Indianern, Negern, Hexen,
Juden und Zigeunern, heute der Holocaust an den Nutztieren. Und
wen der Begriff Holocaust im Zusammenhang mit den Nutztieren stört, weil
darin ein Vergleich mit Massenverbrechen an Menschen anklingt und man
Tiere und Menschen doch nicht vergleichen kann, der hat ein gewaltiges
ethisches Defizit, das er aber vermutlich gar nicht beheben will, weil
es sich damit scheinbar leichter leben lässt. Er wird aber später nicht
sagen können, er habe nichts gewusst. Wer informiert sein will, der kann
sich informieren, auch zu diesem Thema:
www.vgt.ch/doc/tier-mensch-vergleich
Aus heutigen und
künftigen Geschichtsbüchern:
Sklavenschiff im Jahr 1880
Mindestens 7 Millionen Afrikaner und Afrikanerinnen wurden im
transatlantischen Sklavenhandel verschleppt. Weitere Millionen
hatten den Transport nicht überlebt. In den 1780er-Jahren erreichte der
englische Sklavenhandel den Höhepunkt. Zum gleichen Zeitpunkt wurden
heftige Kampagnen gegen die Sklaverei geführt. (Quelle:
Tages-Anzeiger 28.3.07)
Schweinefabriken in der
Schweiz im Jahr 2008
Rund 1.5 bis 2.0 Millionen Schweine wurden in Ende des 20.
und in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts so oder
ähnlich in Schweizer Tierfabriken gehalten. Um das Jahr 2000 erreichte
der Fleischverzehr seinen Höhepunkt. Zur gleichen Zeit führte ein
Verein namens "Verein gegen Tierfabriken Schweiz" heftige Kampagnen
gegen die KZ-artige Massentierhaltung .
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