VN 09-1

Verding-Kinder

Das Verding-Kinderwesen in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert  - erschreckende Parallelen zur heutigen Ausbeutung der Nutztiere

von Erwin Kessler, Präsident VgT

In einer vom Nationalfonds unterstützten Studie ist dieses dunkle Kapitel der jüngsten Schweizergeschichte aufgearbeitet und im Buch "Versorgt und vergessen" veröffentlicht worden (Rotpunktverlag, Herausgeber: Marco Leuenberger, und Lortetta Selias; erhältlich im Buchhandel). Es wurden die mündlichen Lebensberichte von über 270 ehemaligen, noch lebenden Verding- und Heimkindern ausgewertet; vierzig davon sind im Buch dargestellt - stellvertretend für Hunderttausende von Leidensgenossen, die über Jahrhunderte als billige Arbeitskräfte ausgebeutet, geschlagen und nicht selten sexuell missbraucht wurden - oft auch von Leuten, die sich nach aussen hin streng religiös gaben. Wie Sklaven wurden die Kinder in der Landwirtschaftspresse ausgeschrieben, vorgeführt und von interessierten Bauern auf ihre Muskeln hin betastet.

Zitate aus dem Buch:

Verdingte Kinder, das waren junge Menschen, die viel zu oft ein liebloses und tristes Dasein fristeten, ohne jegliche menschliche Wärme und Anteilnahme. Diese Kinder standen, verachtet und geächtet, an letzter Stelle der gesellschaftlichen Rangliste.

... doch das wollte niemand sehen. Lehrer schwiegen, obwohl sie wie alle übrigen Dorfbewohner das Unrecht sahen. Die Kirche schwieg und unterstützte dadurch diese fragwürdigen Machenschaften. Das Bodenpersonal Gottes stellte sich auf die Seiten der Behörden und Pflegeeltern, obwohl die geistlichen Würdenträger die tatsächlichen Verhältnisse und Begebenheiten kannten.

Es gab auch Pflegefamilien, die ihre Schützlinge gut behandelten, das muss fairerweise gesagt sein. Dennoch: Statt einer helfenden Hand, einem Menschen, der ihnen zugetan war und sie begleitete, erlebten viele Kinder einen Alltag voller Schläge und Angst. Für die erlittene Schmach wurde von ihnen auch noch Dankbarkeit erwartet. Sie kannten nur Diskriminierung, Spott und Schmerz, den ihre kleinen Seelen Tag für Tag erlitten. Den Kindern wurden so lange Schuldgefühle eingebläut, bis sie sich für das erlittene Unrecht tatsächlich schuldig fühlten.; bis sie davon überzeugt waren, eine normale Kindheit nicht verdient zu haben.

Kinder, die von ihrem Leid erzählten, wurden als Lügner hingestellt. So schwiegen sie und verloren mit der Zeit das Vertrauen in die Umwelt. Ihnen blieb oft keine andere Wahl, als bis zum Schulaustritt und manchmal bis zur Volljährigkeit bei ihren Peinigern auszuharren. Wenn sie Glück hatten, waren sie danach frei. Wenn nicht, wurden sie weiterhin entmündigt oder gar weggesperrt. Wen kümmerte es?

Mangelnde Liebe und Wärme, gepaart mit unmenschlicher Behandlung in der Kindheit, liess viele Betroffene an ihrem Schicksal scheitern. Unzählige sahen später keine Zukunftsperspektiven und nahmen sich das Leben.

Mir wurde - wie vielen meiner Leidensgenossinnen und -genossen - die Einsicht der Akten mit fadenscheinigen Ausreden verwehrt. Viele Gemeinden liessen diese Unterlagen einfach verschwinden. Immer noch gibt es Gemeinden, die die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben und nicht eingestehen, dass jahrhundertelang grosses Unrecht an Kindern verübt wurde.

Wir können dieses soziale Drama der letzten Jahrhunderte nicht ungeschehen machen, aber es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass sich solche Grausamkeiten nicht wiederholen. Wir sind alle aufgerufen, der Realität ins Auge zu blicken. Jede und jeder von uns ist angehalten, Missstände zu melden und anzuprangern. Wo sind die Menschen, die hinsehen und etwas unternehmen? Frauen und Männer, die sich einsetzen, sind nach wie vor rar. Wegsehen ist auch heute noch bequemer, denn Zivilcourage erfordert Mut und kann unbequem sein. Es gilt hinzusehen und den Finger auf die wunden Punkte zu legen.

Auch wenn die genaue Anzahl der fremdplatzierten Kinder in der Schweiz nie mehr ermittelt werden kann, muss davon ausgegangen werden, dass bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus jährlich Zehntausende von Kindern nicht bei den eigenen Eltern aufwachsen konnten. Unzählige Waisen- und Scheidungskinder, aber auch uneheliche und sogenannte milieugeschädigte Kinder wurden von den Behörden oft einfach abgeholt und ungefragt vorwiegend auf Bauernhöfe verteilt, oder von verzweifelten, verarmten Eltern weggegeben. Bei einem grossen Teil dieser fremdplatzierten  Kinder stand deren Arbeitsleistung im Vordergrund.

Aus den Schilderungen von Verdingkindern ergeben sich stereotype Leidensmuster. In den verschiedenen Biografien treten viele Missstände oder gar Ungeheurlichkeiten zutage, die aufmerksamen Zeitgenossen bekannt waren.

Erst mit der Revision des Kindesrechts von 1978 hätte der gesetzliche Schutz auch für die Verdingkinder gegolten. Bestrebungen zur Arbeitszeitregelung in der Landwirtschaft setzten indessen erst spät ein. All die Verstösse blieben Makulatur, zu verschieden waren die Interessen, zu gross war der Widerstand in landwirtschaftlichen und hausindustriellen Kreisen gegen einen solchen Eingriff in ihre persönliche Freiheit. Erschwerend kam für Verdingkinder hinzu, dass Fürsorgekreise seit der Reformation harte Arbeit für arme Kinder propagierten. Nicht das Wohlergehen des Kindes, des Individuums, stand im Vordergrund, sondern das Wohlergehen des Staates.

Die Schicht der Verdingkinder stellte seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl für die Behörden als auch für landwirtschaftliche Kreise jenes Reservoir dar, aus dem die Lücken im Dienstbotenstand aufgefüllt werden sollten. Landwirtschaftliche Kreise interessierten sich stark für die armengenössigen Kinder. Dies hatte aber weniger mit Wohltätigkeit als mit dem Bedarf an Hilfskräften in der Landwirtschaft zu tun.

Beklagt wurden dabei [von den Opfern] nicht die verlangte Arbeitsleistung, sondern physische und insbesondere psychische Misshandlungen. Nicht von ungefähr zieht sich die mangelnde oder fehlende Zuwendung wie ein roter Faden durch die Gespräche mit ehemaligen Verdingkindern.

So gab es Verdingkinder, die den Wohnbereich überhaupt nicht betreten, sich lediglich im Stall sowie in der Küche aufhalten durften oder aufs Schlimmste misshandelt und ausgebeutet wurden.

Auch wenn aufgrund fehlender entsprechender Untersuchungen keine gesicherten Daten vorliegen, scheinen die Verdingkinder zumindest im 20. Jahrhundert vorwiegend in kleineren oder mittleren Bauernbetrieben platziert worden zu sein.

Die eidgenössische Betriebszählung von 1929 sprach von "grossen Beständen an Kinderarbeitskräften" insbesondere in kleineren Betrieben im Kanton Bern, wo Kinder unter fünfzehn Jahren knapp zwanzig Prozent aller ständigen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft ausmachten.

Verschiedene Todesfälle und Skandale 1945/46 führten schliesslich zu einer ersten Wahrnehmung in der Bevölkerung.

"Und einfach immer dieser Hunger, dieser Hunger"

Armin Stutz ist zusammen mit mehreren Dutzend Kindern in einem Waisenhaus im Kanton Luzern aufgewachsen. Im Waisenhaus herrschte Zucht und Ordnung. Schläge wurden zur Gewohnheit, und gleichzeitig wurde jeden Abend der Rosenkranz gebetet. Armin Stutz erinnert sich genau daran, wie am Morgen das Gesicht der Kinder, die nachts das Bett nässten, mit den nassen Leintüchern eingerieben wurde.
Betreut wurden die Kinder von Ingenbohl-Schwestern. Eine davon liess sich von den Knaben befriedigen; der sexuelle Missbrauch gehörte zur Tagesordnung. "Eine junge Schwester hat uns, wenn wir einzeln im Zimmer waren, in den Bettchen am Schwänzchen gesaugt. Und wir mussten ihr unter den Ding fassen. Sie hat die hellen Strumpfhosen herunter gezogen. An das kann ich mich noch gut erinnern." Am Sonntag kam jeweils der Pfarrer mit dem Fahrrad oder der Kutsche, um die Messe zu lesen. "Er hat sich im Zimmer der Schwestern umgezogen und wir sind schauen gegangen, wenn die Nonnen und der Pfarrer nackt im Zimmer waren. Mehr sage ich nicht."

Zwischenbemerkung:
An die Stelle der Unterdrückung von Kindern ist heute die Ausbeutung von Nutztieren durch die Ingenbohl-Schwestern getreten:

Mehr zur Schweinefabrik des Klosters Ingenbohl hier: www.vgt.ch/vn/0501/StElisabeth.htm

Weitere Zitate aus dem Buch "Versorgt und vergessen" über das Verdingkind Armin Stutz:

Im Sommer wurden die Kinder in den Erntezeiten [von den Ingenbohl-Schwestern] barfuss auf die Stoppelfelder geschickt, um Ähren zu sammeln. Die Kinder, die am meisten sammelten, wurden mit einem angefaulten Apfel belohnt.

Nach ein paar Jahren wurde Armin Stutz einem anderen Bauern zugeteilt, bei dem er es noch schlimmer traf. Auch hier litt er Hunger, obwohl diese Familie alles andere als arm war: Der Pflegevater war als Gross- und Gemeinderat eine angesehene Person.

"Und einfach immer dieser Hunger, dieser Hunger. Manchmal ging ich, was ich mich fast nicht zu sagen getraue, wenn die Schweine gefüttert wurden, zum Schweinetrog hinunter und habe eine Hand voll Ware hinausgenommen."

Für alles Mögliche benutzten sie ihn als Sündenbock. Wenn etwa eine Arbeit nicht rechtzeitig zu Ende gebracht werden konnte oder ein totes Reh die Mähmaschine blockierte, wurde die Wut an Armin Stutz ausgelassen und er wurde mit der Peitsche geschlagen. "Ich hatte Striemen über den ganzen Rücken."

Einen Beamten, der einmal zum Rechten geschaut hätte, hat er nie gesehen. Das Übel war, dass sich der Pflegevater als Waisenvogt eigentlich persönlich um das Wohl der Verdingkinder in der Gemeinde hätte kümmern müssen.

Als sich Armin Stutz einmal darüber beklagte, dass ihm einer der Söhne immer wieder den Pullover mit Sägemehl füllte und versteckte, erhielt er als Antwort lediglich Schläge. Auch die Schulkameraden plagten ihn und nahmen ihm beispielsweise seine Butterbrote ab, die er vom Waisenhaus für gewisse Dienstleistungen erhielt. Und wenn das nicht mehr möglich war, bekam er als ehemaliger "Waisenhäusler" einfach eine Tracht Prügel. Armin Stutz hatte es auch in der Schule nicht einfach. Da er nie Aufgaben machen konnte [bzw durfte], sass er nach vier Jahren immer noch in der Reihe der Erstklässler. Während des Unterrichts schickte ihn der Lehrer regelmässig nach draussen, um sein Fahrrad zu putzen. Andererseits wurde er für jede Kleinigkeit mit aller Härte bestraft, indem er mit dem Rohrstock auf die Hände geschlagen wurde oder draussen mit ausgestreckten Armen während Minuten bewegungslos knien musste. "Und die anderen haben geklatscht und hatten Freude."

Der nächste Lehrer war fürsorglicher. Dieser hatte erkannt, dass Armin Stutz zu wenig Schlaf bekam und liess ihn während des Unterrichts schlafen. Eines Tages im Winter, bezahlte ihm dieser Lehrer sogar ein Paar Holzschuhe, weil Armin Stutz barfuss in die Schule kam. Diese Schuhe musste er vor seinen Pflegeeltern verstecken. Die Arbeit - etwa Viehhüten bei kalter Witterung im Herbst - wurde barfuss verrichtet, sodass, "sobald eine Kuh gepinkelt hat, ich die Füsse hingehalten habe." Armin Stutz behalf sich auch mit alten Lumpen; Socken hatte er nämlich auch keine.

Im Dorf war wohlbekannt, unter welchen Umständen er und das Mädchen auf dem Hof lebten, doch niemand stand ihnen bei. Armin Stutz konnte sich auch nie jemandem mitteilen. Ein einziges Mal tat er es, als er nach den Schulferien vom Lehrer aufgefordert wurde, seine Ferienerlebnisse in einem Aufsatz niederzuschreiben. Nach anfänglichem Zögern beschrieb Armin Stutz seinen harten Arbeitsalltag und die Misshandlungen. Daraufhin konfrontierte der Lehrer die Familie damit, worauf der älteste Sohn den Knaben halb tot schlug. Er züchtigte ihn mit dem Lederriemen derart heftig, dass er ein Wunde davontrug, die sich bis heute immer wieder öffnet. Jahre später - bei der Rekrutierung - vermutete man, er habe einmal eine Schussverletzung erlitten. Geändert hat sich nach diesem Vorfall nichts, aber Armin Stutz schwieg fortan.

Freizeit, Ferien oder Feiertage wie Weihnachten oder Geburtstage kannte Armin Stutz nicht. Einzig zur Firmung erhielt er von seinem Firmpaten eine Uhr geschenkt. Die musste er aber sogleich einem Sohn der Pflegefamilie abgeben. Er sah seine Uhr nie wieder. Geld sah er nie oder musste es sofort abliefern, wenn ihm jemand etwas zusteckte.

Kurze Auszüge aus Erlebnissen anderer Verdingkinder:

Hier sass er oft und weinte, wenn ihn das Heimweh überkam. "Es war einfach so, dass man nicht mehr Kind sein konnte, man hatte immer eine Arbeit, die man verrichten musste." Christoph Grädel denkt, dass die Leute eigentlich gewusst hätten, wie es den Verdingkindern ergeht, wenn sie es hätten wissen wollen.
Die Nöte des Knaben äusserten sich darin, dass er das Bett nässte. Immer wieder flüchtete er sich in Traumwelten: "Ich lag oft im Gras und träumte, ich könne wieder nach Hause zurück." Geholfen haben Christoph Grädel auch die Tiere. Er hatte Freude am Pferd und an den Kälbern. Die Katzen kamen zu ihm ins Bett. Einmal bekam eine sogar Junge in seinem Bett. Ein Erlebnis war ihm besonders in Erinnerung geblieben: Christoph Grädel und der damals noch auf dem Hof lebende ältere Verdingknabe W hatten eines Tages beobachtet, wie eine junge Schwalbe von einem Schwalbenpaar aus dem Nest geworfen wurde. W sagte darauf zu Christoph Grädel: "Der kleinen Schwalbe geht es wie uns, wir hatten auch keinen Platz mehr zuhause. Uns haben sie auch aus dem Nest geworfen." Sie freuten sich dann darüber, dass sie die junge Schwalbe in einem anderen Nest platzieren konnten, wo sie angenommen und gefüttert wurde.

Ich hoffte, ich würde da nicht geschlagen wie daheim. Aber als Verdingbub erhielt er auch dort Schläge. Dazu kam die strenge Arbeit, die Schule war nur Nebensache. Am Morgen vor der Schule arbeitete Hans Unglück im Stall. Am Mittag und Abend erledigte er Arbeiten auf dem Feld, sieben Tage die Woche. Da blieb keine Zeit für die Hausaufgaben oder gar für Freizeit und Spiel. Waschen musste er sich sowohl im Sommer als auch im Winter draussen am Brunnen: die Familie wusch sich drinnen mit warmem Wassser.

Werner Bieri fand bei den Tieren Zuneigung und Trost. Wenn er traurig war, legte er sich einer Kuh zwischen die Vorderbeine und liess sich ablecken. Dort war es weich und warm.

"Ich habe oft vor Hunger geweint", sagt Ernst Wessner rückblickend.

Schulbesuch und Berufslehre galten als Nebensache

Trotz Bundesverfassung liess man die Kinder in ländlichen Gegenden vielerorts in der Landwirtschaft arbeiten, statt sie zur Schule zu schicken. Obwohl es schon seit 1847 einen Passus im Armengesetz des Kantons Bern gab, wonach Pflegeeltern die Kinder zu regelmässigem Schulbesuch anhalten sollten, wurde auch Jahrzehnte später häufig nicht danach gehandelt.

Die meisten Befragten sagten, dass die Schule sich nicht darum kümmerte, wie es ihnen zuhause ging. Trotzdem gab es Lehrpersonen, die zu helfen versuchten. Es gab solche, die einem Verdingkind die Schulreise aus dem eigenen Sack zahlten oder deswegen bei den Pflegeeltern vorstellig wurden. Oder es gab den Lehrer, der einen von den Pflegeeltern abgerissenen Verband provokativ erneuerte. Die Schule war entweder ein weiterer Ort der Qual oder sie war ein Ort der Erholung. Es war möglich, dass ein Verdingkind in seiner Schulkarriere sowohl einen Lehrer hatte, der Verdingkinder förderte, als auch einen, der sie diskriminierte.

Dass wenige Verdingkinder die Sekundarschule besuchten und viele ein Schuljahr repetieren mussten, hatte nicht nur mit mangelnder Förderung in der Schule zu tun. Sie hatten kaum Zeit für Hausaufgaben und waren am Abend so müde, dass sie vor Erschöpfung über dem Buch einschliefen. Arbeitszeiten bis abends um zehn waren für Verdingkinder keine Seltenheit. Am Morgen mussten sie häufig um vier oder fünf aus dem Bett. Auch bezüglich der Aufgaben verhielten sich die Lehrpersonen unterschiedlich. Es gab solche, die ohne Rücksicht straften, wenn die Aufgaben nicht gemacht waren, und andere, die ein Auge zudrückten.

Der Kanton Bern hatte bereits 1879 ein Armengesetz in Kraft, das von den Armeninspektoren verlangte, dass sie mit den Verdingkindern die Berufswünsche besprechen  und sie beraten sollten. Aber wenige der Befragten  konnten ihren Wunschberuf lernen oder überhaupt nach Schulschluss eine Lehre antreten. Man redete ihnen ein, sie seien nicht fähig, eine Lehre zu absolvieren. Es war für die Bauern vorteilhafter, wenn die Verdingkinder zu einem kleinen Lohn auf dem Hof blieben. Oft bekamen sie gar keinen Lohn, was damit begründet wurde, dass sie das Konfirmationskleid abverdienten müssten. Dieser unsägliche Brauch wurde von vielen der Befragten erwähnt.

Weitere Erlebnisse von Verdingkindern:

Mit zweieinhalb Jahren wurde Elsa Schweizer bei einer Bauernfamilie im Kanton Solothurn platziert. Wie Elsa Schweizer später erfuhr, konnte ihre Mutter sie bei den Pflegeeltern zunächst noch besuchen. Da sich aber die Mutter nach jedem Besuch heftig weinend von ihr verabschiedete, liess die Pflegemutter den Behörden ausrichten, die mütterlichen Besuche übten einen schlechten Einfluss auf das Kind aus. Fortan wurden die Besuche untersagt. Auch ihr Vater kam zu Besuch, sie durfte aber nicht erfahren, dass es ihr Vater war. Überhaupt wurden Fragen nach der Herkunft stets abgeblockt. Auf ihre Frage antwortete der Pflegevater nur: "Das geht dich nichts an." Elsa Schweizer sagt dazu: "Das ist das Schlimmste, das man einem Kind antun kann. Da zählen die Schläge gar nicht mehr so viel. Sondern, dass man die eigene Identität nicht haben darf."

Das Bauernhaus stand direkt neben der Schule, doch es kam immer wieder vor, dass Emil Weber zu spät kam, weil er im Stall nicht fertig wurde. Dafür hatte sein Lehrer kein Verständnis und beschimpfte ihn jedes Mal. Er wurde geohrfeigt und bekam Schläge mit dem Lineal auf die Finger. Emil Weber hatte Angst vor ihm. Der Lehrer lachte ihn aus, wenn er etwas nicht konnte, oder er musste bei der Tür stehen, wenn er zu spät kam. Dabei kannte der Lehrer die Verhältnisse bei ihm zuhause. Emil Weber bat seine Mutter um Hilfe; sie solle mit dem Lehrer sprechen. "Aber sie hat sich eben auch nicht getraut." Die Verdingkinder wurden auch von den anderen Kindern gequält und tyrannisiert.

Josef Anderhalden: Nach den acht Jahren bei der älteren Frau kam er zu einem Kleinbauern. Dieser war Kranzschwinger und ein richtiger Schläger. Josef Anderhalden arbeitete vom Morgen bis zum Abend, vor und nach der Schule wie ein Knecht. Er hatte immer zu wenig zu essen. Die Erwachsenen bekamen Käse zu den gekochten Kartoffeln; er erhielt nur zwei Kartoffeln. Ihm ist auch nicht klar, warum ihn der Bauer am Sonntag entweder in sein Zimmer oder in den Schweinestall einsperrte. Die Schläge waren oft so stark, das er kaum mehr gehen konnte.
Josef Anderhalden besuchte eine Schule, in der Klosterfrauen unterrichteten. Diese unterstützten den Bauern offensichtlich in seinem Tun.

Marie Bachmann kam 1941, mit elf Jahren, auf einen mittleren Bauernbetrieb. Sie wurde wegen jeder Kleinigkeit geschlagen und getreten. Sie rissen sie an den Haaren und an den Ohren und traten sie in den Hintern. Ein anderes mal wurde sie von der Pflegemutter beschimpft anstatt getröstet, als sie am Abend im Bett weinte, weil sie sich die Hand verbrannt hatte. Marie Bachmann beklagte sich bei ihrer Mutter, die sie darauf über den Winter zuhause behielt. Im Frühling 1942 musste sie wieder von zuhause fort. Auf wessen Geheiss weiss sie nicht.
Vom fünf Jahre jüngeren Sohn der Familie und vor allem von der Meistersfrau wurde sie in besonderer Weise gequält: Sie nahm ihr alles weg, was sie bekam oder selbst erarbeitet hatte. "Das tat mir so weh, dass sie mir alles wegnahm." Die Meistersfrau nahm ihr zum Beispiel das Geld weg, das sie von Soldaten für den Abwasch erhalten hatte. Auch einen Schirm, den sie von ihrem älteren Bruder geschenkt bekommen hatte, nahm sie ihr weg und die Jacke, die sie in der Schule gestrickt hatte. Wenn ihr die Mutter zu Weihnachten ein schönes Hemdchen kaufte oder sonst irgendetwas, das war jeweils sofort weg. Die Pflegeeltern liessen die Mutter auch die Auslagen für die Schule berappen, obwohl sie wussten, wie arm die Familie war.
"Ich hatte den ganzen Winter nie etwas zum Anziehen, also zum Wechseln". Als sie keine Schuhe hatte, um mit der Schule in den Zirkus zu gehen, schenkte ihr eine Klassenkameradin ein Paar. Das akzeptierte die Meistersfrau nicht, und Marie Bachmann musste die Schuhe zurückgeben. Zu wehren wagte sie sich nicht.
Krank oder arbeitsunfähig durfte sie nicht sein. Als sie sich wegen massiver Rückenprobleme nicht mehr bewegen konnte, liess sie die Meistersfrau den ganzen Tag ohne Essen und Trinken im Zimmer liegen. "Da hat sie die Tür zugeschlagen und gesagt, wenn man am meisten zu tun hat, bleibt sie im Bett. Wenn du etwas willst, musst du aufstehen", erinnert sich Marie Bachmann. Die Pflegefamilie erlaubte der Mutter nicht, wegen der Rückenprobleme mit der Tochter zu einer kostenlosen Konsultation in ein Spital zu gehen. Als die Mutter mit ihr wegen einer Augenentzündung zum Arzt wollte, erlaubten sie es ebenfalls nicht. Verbände, die ihr der Lehrer angelegt hatte, weil sie sich im Turnen die Hände aufgeschürft hatte, musste sie abnehmen. Es hiess: "So kannst du doch nicht arbeiten. Nimm das Zeug weg." Für Marie Bachmann galt: "Arbeiten, arbeiten, arbeiten und nichts vom Leben haben."
Sie hatte zwei Lehrer, die sich ihr gegenüber unterschiedlich verhielten. Der erste Lehrer, der sie von der fünften bis zur siebten Klasse unterrichtete, kümmerte sich besonders um die Verdingkinder und auch um sie. Es tat ihr gut, wenn er sie auf der Schulreise an die Hand nahm, wenn sie müde war. Er schaute, "dass die Verdingkinder auch jemand waren". Er war es auch gewesen, der ihr die aufgeschürfte Hand ein zweites Mal verband, und der reklamierte, weil man ihr den Verband abgenommen hatte. Der nächste Lehrer war das pure Gegenteil. Ihrer Ansicht nach liess er sie im Turnen absichtlich rennen, weil man sah, dass sie keinen Büstenhalter trug. Er lachte sie zusammen mit den Buben aus, wenn sie beim Laufen im Wald ins Keuchen kam.
Trotz der guten Schulleistung durfte sie nichts lernen.

Gesetzliche Entwicklung des Pflegekindwesens

Aus der Familie gerissen, als Arbeitskraft missbraucht, geschlagen, hungrig und überfordert - viele ehemalige Verdingkinder erzählen von einer Kindheit, deren Erlebnisse sie als Erwachsene noch lange belasten: Alice Alder wurde an ihrem Pflegeplatz geschlagen und misshandelt. Sie vermutet, dass die Nachbarschaft die katastrophalen Zustände kannte, "aber niemand getraute sich, etwas zu sagen". Eine benachbarte Bauersfrau hatte Mitleid und reichte ihr jeweils ein Stück Wähe, das sie vor Hunger eilig hinunterschlang.

Die Pflegefamilie von Katharina Klodel hatte einen guten Ruf im Dorf, nach aussen hin wirkte alles perfekt. Hinter dieser Fassade verbarg sich jedoch eine traurige Wirklichkeit: Katharina Klodel wurde geschlagen und musste viel arbeiten.

Wie konnte es soweit kommen, dass diese Menschen solche Schicksale erdulden mussten? Gab es keine Handhabung zum Schutz der Kinder? Die Aufnahme von Pflegekindern ist gesamtschweizerisch erst seit 1978 durch die Pflegekinder-Verordnung geregelt, und es gibt sowohl in gesetzlicher Hinsicht als auch in der praktischen Umsetzung der bestehenden Regelungen noch immer grosse Lücken.

Um die Qualität ihrer Pflegeplätze kümmerten sich die Behörden nicht, sie waren jedoch streng darauf bedacht, jeglichen Kontakt zum leiblichen Vater zu unterbinden. Als es Doris Gasser später nach einigen Anläufen 1995 schaffte, endlich Einblick in ihre Akten zu erlangen, erkannte sie erst, wie sehr sich ihr Vater in ihrer schlimmen Kindheit um sie bemüht hatte. Die Behörden jedoch hatten ihn zurückgehalten und ihm den Zugang zu seinen Kindern verwehrt.

Falls jemand in der Verdingfamilie zu Besuch kam, um einen Augenschein vorzunehmen, wurden häufig falsche Tatsachen und ein heiles Pflegeverhältnis vorgetäuscht.
Wie in den hier publizierten Biografien nachzulesen ist, erstreckte sich diese Nachlässigkeit weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus: Die zuständigen Vormundschaftsbehörden erkundigten sich lediglich telefonisch bei den Pflegeeltern, wie es Ernst Fluri ging. Nicht ein einziges Mal wurde er zu seinem Wohlbefinden befragt.

Nach Ansicht des Bundesrates  ist "aus heutiger Sicht weder ein Bedarf noch eine hohe Dringlichkeit für eine breiter angelegte historische Studie zur Thematik der Fremdplatzierung von (Waisen-)Kindern" vorhanden. Und er vertritt die Auffassung, dass sich das "föderalistische Pflegekindwesen in der Schweiz bewährt hat".

Weitere Erfahrungen von Verdingkindern:

Neben den Schlägen des Pflegevaters waren für Alice Alder der Hunger allgegenwärtig. "Das Brot sperrten sie immer weg.
Ein oder zweimal kam der Erziehungsinspektor auf Kontrollbesuch. Da wurde Alice Alder jeweils ins Wohnzimmer gerufen und gefragt, wie es ihr gefalle. Die Pflegeeltern waren im Raum anwesend. "Da konnte ich natürlich nicht sagen, was ich alles durchleben musste."
Die Inspektion war eine Farce. Die Vormundschaftsbehörde wäre für die Aufsicht zuständig gewesen, tat aber nichts.
Doris Gasser erzählt: "Ich hatte keine Bezugsperson. Liebe bekam ich von niemandem."
Im Frühjahr 1955 kam Doris Gaser in eine Haushaltslehre bei einer Pfarrerfamilie. Sie musste schwer arbeiten und wurde ausgenützt.
Ihre Vormundschaft dauerte bis zur Volljährigkeit im Jahr 1960. Dieses letzte Jahr wohnte Doris Gasser in einer Pension und arbeitete als Schneiderin in einem Konfektionshaus. Die Vormundschaft verlangte nun von ihr, dass sie ihre Prüfungskosten und eine Zahnarztrechnung zurückzahle. Um diese finanzielle Belastung bewältigen zu können, arbeitete sie zusätzlich während acht Monaten jede Nacht. Sie nähte Kleider für Privatkunden zu Spottpreisen. Zu viele Male hatte man ihr gesagt: "Du bist nichts und wirst nichts werden." Sie nahm vierzehn Kilogramm ab in dieser Zeit und erlitt kurz vor ihrem 20. Geburtstag ihren ersten Zusammenbruch.
Eine schwere Krise veranlasste sie 1995, die Bewältigung ihrer Vergangenheit anzupacken. Sie suchte die Akten, die ihre frühe Kindheit betreffen. Sie brauchte mehrere Anläufe. Bemühend, beschämend war es, wie die Amtsvormundschaft sie abwimmeln und ins Leere laufen lassen wollte. Erst die Hilfe eines Anwalts ermöglichte ihr nach jahrelangen Bemühungen den unumschränkten Zugang zu ihren Akten.

1957 wurde Ernst Fluri mit elf Jahren in eine streng religiöse Bauernfamilie im Kanton Bern verdingt, "einfach weggenommen. Ich habe mich gewehrt. Aber das ging nicht." Eine Mitarbeiterin der Vormundschaftsbehörde holte ihn eines Tages ab und brachte ihn zunächst in ein Aufnahmeheim, wo er allein in ein Zimmer gesperrt wurde. Nach drei Tagen wurde er an seinen Bestimmungsort gebracht. Ernst Fluri wurde auf dem Bauernhof physisch und psychisch überfordert. Er musste gleich viel arbeiten wie der italienische Knecht, war aber als Kind nicht so kräftig und schnell wie dieser. Als er einmal beim Heuwenden in Rückstand geriet, beschimpfte ihn der Grossvater als fuule Siech und meinte, sie bräuchten keine faulen Leute. "Dann sagte ich: 'Ich kann nicht mehr. Es geht nicht mehr.' Der Grossvater antwortete darauf: 'Ich kann dir schon Gas geben, damit du aufholst.' Und dann stiess er mir die Mistgabel in den Hintern." Ernst Fluri blutete und arbeitete trotz Schmerzen weiter. Am nächsten Morgen musste er wieder um vier aufstehen und weiterarbeiten, obwohl er aufgrund der Verletzung noch lange auf dem Bauch schlafen musste und nicht sitzen konnte.
Ernst Fluri wurde nicht nur auf dem Hof, sondern auch für schwere Holzarbeiten im Wald eingesetzt. Aus verschiedenen Episoden wird deutlich, wie oftmals seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt wurde. Einmal wurde er zum Holzfällen aufgeboten, obwohl er Grippe und eine Lungenentzündung hatte. Geschwächt durch das Fieber vermochte er nicht schnell genug auf die Warnung vor dem fallenden Baumstamm zu reagieren und verunfallte. "Es hat mich dann weggespickt. Darauf habe ich noch Schläge bekommen. 'Hast du wieder geschlafen?' fragten sie." Er trug einen Knochenriss am Oberschenkel davon, der nicht behandelt wurde. Das Bein wuchs krumm zusammen, was einen Hüftschaden zur Folge hatte, sodass er später ein künstliches Hüftgelenk brauchte.
Ein anderes Mal stand ihm beim Pflügen ein Pferd auf den rechten Fuss und zerquetschte ihm die Zehen, sodass er abends kaum mehr aus dem Schuh schlüpfen konnte. Der Schuh war voller Blut. "Man hat die Zehen ein bisschen eingebunden. Und heute sind sie einfach ein bisschen verkrüppelt."
Als er später einen weiteren Schwächeanfall erlitt, hiess es einfach, er solle sich hinlegen. Am anderen Morgen um vier Uhr, nach einer kurzen Nacht, musste er wieder aufstehen und mithelfen. "So, jetzt bist du wieder gesund." Eines Morgens kauerte er erschöpft neben dem Bett und sagte: "Ich kann nicht mehr. Ich bin kaputt. Es geht nicht mehr. Jetzt ist fertig." Er war so verzweifelt, dass er von Selbstmord sprach. Doch der Pflegevater übergoss ihn mit kaltem Wasser und sagte, jetzt sei er sicher wach. Er befahl ihm aufzustehen und nicht mehr "solchen Quatsch" zu erzählen.
Viereinhalb Jahre blieb er in der streng religiösen Pflegefamilie.
Ernst Fluri war auf dem Bauernhof von der Welt abgeschnitten: "Ich konnte nie mit jemandem über meine Probleme sprechen. Ich war einfach vier Jahre allein. " Sein einziger Freund in der Schule war ebenfalls ein Verdingbub, der jedoch plötzlich nicht mehr da war. Er hatte sich bei einem Fluchtversuch verletzt und war querschnittgelähmt.

Alle Verdingkinder, die umgekommen sind oder sich das Leben nahmen, stehen logischerweise heute nicht mehr als Zeugen zur Verfügung.

Die Mutter hatte kein Geld, um ihrem Sohn bei ihren seltenen Besuchen etwas mitzubringen. Sie sagte: "Schau, ich muss jeden Monat 400 Franken zahlen für dich. Ich hätte es billiger, wenn du zuhause wärst." Geburtstage wurden nicht gefeiert; seine Mutter schickte ihm aber jeweils eine Karte und gratulierte ihm. Der beigelegte Batzen wurde ihm von der Pflegefamilie abgenommen.
Ernst Fluri kann das Verhalten der Vormundschaftsbehörde heute noch nicht verstehen. Sie hatte über das Schicksal eines Kindes entschieden, aber keine Kontrolle ausgeübt. Während seines Aufenthalts in der Pflegefamilie sei nicht einmal mit ihm gesprochen worden und die Missstände seien nicht kontrolliert worden, obwohl seine Mutter immer wieder vorgesprochen hatte. Die Behörden hätten lediglich auf dem Hof angerufen und sich nach dem Befinden von Ernst Fluri erkundigt. Die Bäuerin hätte daraufhin geantwortet: "Ja, es geht ihm gut." Ihn selber habe man nie gefragt, wie es ihm gehe.

Eines Nachts wurde sie unsanft aus dem Bett gerissen und vom Pflegevater verprügelt, weil sie die ganze Nacht hindurch geweint hatte.
Im Dorf hatte die Familie einen guten Ruf, da sie sich durch den Verdienst des Vaters und aus dem Landwirtschaftsbetrieb ein Auto leisten konnte.
Nach Abschluss der Schule musste Katharina Klodel eine Schneiderlehre antreten, obwohl sie viel lieber eine Lehre als Coiffeuse gemacht hätte. Von ihrem Lehrgeld bekam sie nicht einmal das obligatorische Taschengeld, die Pflegefamilie nahm alles an sich. Zusätzlich bekam die Familie für die zweieinhalb Lehrjahre zehntausend Franken ausbezahlt.
Nach der Lehrzeit trat Katharina Klodel eine Stelle als Damenschneiderin an. Den Lohn musste sie gegen ihren Willen zuhause abgeben. Die Pflegemutter meinte, das sei ganz normal, sie sei doch wie ein eigenes Kind.

Aus den Lebensberichten der Betroffenen geht hervor, dass die bevorstehende Fremdplatzierung mit den Kindern in der Regel nicht besprochen wurde. Häufig wurden die Kinder durch diese abrupten Platzierungen traumatisiert.
Nelly Haueter berichtet, dass sie und ihr jüngerer Bruder in einer "Nacht- und Nebel-Aktion" weggeholt worden seien: Sie aus der Schule und der Bruder aus dem Kindergarten. Die beiden Geschwister wurden in verschiedenen Pflegefamilien platziert und im Glauben gelassen, bald wieder zu den Eltern heimkehren zu können.
Nelly Haueter erinnert sich, dass ihr Vormund einmal im Jahr bei der Pflegefamilie erschienen sei, ohne je einmal mit ihr zu sprechen.

Bei den Pflegeplatzinspektionen liessen sich die Vormünder von den Pflegeeltern häufig etwas vormachen, gaben sich mit deren Auskünften zufrieden und liessen sich in der Stube bewirten, statt mit den schutzbefohlenen Kindern zu sprechen und deren Meinung und Anliegen anzuhören.
Immer wieder zeigte sich, dass Beamte und Gemeinderäte sich häufig nur in den krassesten Fällen für Pflegekinder einsetzten, da sie die Feindschaft einflussreicher Personen im Dorf fürchteten. Verdingkinder waren das schwächste Glied in der Gesellschaft, ihren Anliegen und Bedürfnissen wurde kein Gehör geschenkt.

Der Pflegevater war der reichste Bauer weit und breit. Er war Schulkommissionsmitglied wie auch die Pflegemutter und er war Gemeindepräsident, Störmetzger, Jäger und Jagdverbandspräsident. "Er tat alles, was Gott verboten hat." Auf dem Hof arbeitete er kaum mit. Er war der "reinste Tyrann und Sklaventreiber". Alle auf diesem Bauernhof litten unter ihm, auch seine Frau, sein Sohn und die Knechte.
Der sechs Jahre ältere "grundanständige" Sohn war für Nelly Haueter Trost und Hilfe. Er stand für sie ein, stellte sich vor sie hin und steckte sogar an ihrer Stelle Schläge ein. Mit 22 Jahren nahm er sich das Leben.
Ihre Schlafkammer lag im Hausteil, wo die Knechte schliefen. Hier gab es weder Licht noch Wärme. Vom ersten Tag an nässte Nelly Haueter all die Jahre durch jede Nacht das Bett. Jeden Morgen erhielt sie zur Strafe mit dem Zwiesel, einem Lederriemen oder einem vierfachen Seil Schläge auf den nackten Hintern, manchmal auf die Bank gefesselt.

Entwurzelung, Isolation und Schweigen

Durch die Einnahmen des Kostgeldes und den Erhalt einer gratis Arbeitskraft waren Verdingkinder als Gesinde lukrativer als erwachsene Knechte oder Mägde.

Die meisten Verdingkinder kämpften nicht nur mit der Isolation und fehlenden Liebe in der Pflegefamilie, sondern auch mit der bewusst gesteuerten Abkapselung von der Aussenwelt. Der Kontakt zu den leiblichen Eltern, zu den Geschwistern und zum Dorf wurde nicht selten unterbunden. Die Pflegeeltern versuchten zu verhindern, dass ihre zum Teil schwere Misshandlungen, die Gewalt, die ungenügende Pflege, die zu harte Arbeit oder der Hunger der Kinder nach aussen gelangten.

Mit den Kindern wurde oft nur gesprochen, um Arbeitsanweisungen zu geben oder um sie verbal herabzusetzen. Schweigen ist ebenfalls eine Form der Machtausübung durch Sprache, nämlich das bewusste Entziehen derselben. Das Schweigen war ein wirkungsvolles Mittel, um die Isolation und das Gefühl der Entwurzelung bei den Kindern zu verstärken. So wurden Verdingkinder mit einem Sprechverbot belegt. Sie durften mit niemandem sprechen, auch nicht mit den Angestellten.

Die Kinder wurden auch zum Schweigen über ihnen angetanes Leid angehalten. Um die Einhaltung des Verbotes sicherzustellen, drohten die Täter den Kindern mit weitreichenden Strafen.
Bei Kontrollbesuchen des Vormundes mussten sie sich schön anziehen und manchmal auch ein anderes Zimmer als das ihre ausgeben. Um sicherzugehen, dass die Kinder schwiegen, waren die Pflegeeltern bei den Besuchen zugegen. Alice Alder sagt: "Da konnte ich natürlich nicht sagen, was ich alles durchleben musste."

Nicht nur die Betroffenen und Pflegeeltern schwiegen. Immer wieder erfuhren Verdingkinder Jahre später, dass auch die Dorfbewohner geschwiegen hatten. Waren die Pflegeeltern in der Dorfgemeinschaft angesehen, so liess die soziale Stellung allfällige Kritik verstummen.

Für viele ehemalige Verdingkinder war es schwer, ihr Schweigen zu brechen, einen Weg aus der Isolation zu finden und sich wieder an einem Ort niederzulassen. Viele blieben entwurzelt und suchten ein Leben lang nach Wegen, um das Erlebte zu verdrängen, zu vergessen oder zu verarbeiten.

Als sie sechzehn Monate als war, nahm ein Pfarrerehepaar Heidy Hartmann in Pflege.
Die Bestrafung für Regelverstösse fielen unterschiedlich aus. So erhielt Heidy Hartmann zum Beispiel eine ganze Saison Badeverbot, weil sie vergessen hatte, ihre Badehose aufzuhängen. Für Schläge musste sich sich jeweils ausziehen und niederknien. Die Folgen der Schläge mit einem Messingmassstab sind noch heute auf Röntgenbildern sichtbar.
Heidy Hartmann hatte kein eigenes Kinderzimmer. Sie erhiel eine Abstellkammer auf dem Dachboden zugewiesen. Der Weg dorthin war für das Mädchen jedes Mal ein Qual: Es hatte fürchterliche Angst.
Aber nicht die Schläge machten dem Mädchen am meisten zu schaffen, sondern die seelischen Qualen. "Dieses Ausgeschlossensein, kein Körperkontakt ausser Schlägen!"
Erst als sie als Erwachsene in die Gemeinde zurückkehrte, gestand ihr eine ehemalige Vormundschaftsmitarbeiterin, dass es alle gewusst hätten, aber niemand etwas gegen den Pfarrer habe unternehmen wollen.

"Dann musste ich die Hosen herunterlassen, den Teppichklopfer abhängen, und in einer finsteren Kammer, in welcher nur Stroh war, neben dem Pferdestall, hat sie mich ausgepeitscht."

Alfred Ryter wurde, nicht ganz achtjährig, verdingt. Abends wurde er in die Tenne ohne Licht und ohne Toilette geworfen. Ein altes Sofa, Säcke und alte Wolldecken waren sein Schlafort. Er litt furchtbar unter der Trennung von seinen Eltern und Geschwistern. Er wehrte sich vergebens, wenn sie ihn am Abend da hineinwarfen. "Ich habe mich gewehrt, geheult, aber ich hatte keine Chance gegen sie." Er flehte, weinte und trat mit den Füssen ans verschlossene Tenntor. Nicht selten erwachte er am Morgen kniend oder liegend hinter dem Tor.
Hunger war von nun an sein ständiger Begleiter. Um den Hunger zu stillen, ass er Hühnerfutter. Alfred Ryter fragt sich heute: "Warum hat sich niemand um uns gekümmert? Der Lehrer oder die Nachbarn hätten doch hören oder sehen müssen, dass wir schwer litten und verwahrlosten. Niemand machte sich etwas aus uns. Warum macht man so etwas mit einem Kind? Warum tat man uns das an?"
Am Morgen wurde er vom Bauern geweckt, und wenn er von der Stallarbeit zurückkam,  bekam er von der Bäuerin ein Stück Brot und eine Tasse verdünnter MIlch. Zum Mittagessen wurde er nicht gerufen.
Zur Bestrafung erhielt der Knabe neben Schlägen noch weniger zu essen. Er magerte stark ab. "Ich war nur noch ein Hämpfli." Irgendwann leistete er keinen Widerstand mehr. Er liess alles über sich ergehen.
Nur am Sonntagnachmittag musste der Knabe nicht arbeiten. Dann wurde er in die Tenne eingesperrt, bis er am Abend erneut zur Arbeit geholt wurde. An Ostern suchten die Kinder mit viel Freude ihre Osternester. Auch Alfred Ryner hoffte auf ein Nest. "Ich hatte aber bis zum Mittag die Hoffnung nicht aufgegeben, dass der Osterhase mich doch nicht vergessen hatte. Aber er hatte mich vergessen!" An Weihnachten erging es ihm nicht anders.

... Dann nahm sich auch sein zweiter Bruder das Leben.

In den Lebenserinnerungen ehemaliger Verdingkinder kommen viele Vormünder und Beistände vor, die ihre Macht missbrauchten und die Diskriminierung der Kinder noch verstärkten. Auch Lehrer und Pfarrer schauten weg oder unternahmen wenig, um die Misere zu beenden. Diese Autoritäten, die gebildeter waren als manche Pflegeeltern im bäuerlichen Milieu, wussten, was Kinder brauchen, um sich zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten entwickeln zu können, zumal dieses Wissen damals längst vorhanden war.

Einmal im Jahr kamen Vertreter der Fürsorgebehörde auf den Bauernhof und inspizierten den Pflegeplatz. Da sie sich jeweils anmeldeten, musste Christine Hauser ihre Habe in ein Zimmer bringen, in dem es elektrisches Licht gab. Die Gäste wurden gut bewirtet. Sie sagten zu Christine, sie solle dankbar sein, dass sie es "so gut getroffen" habe. Wenn die Inspektoren vom Hof verschwunden waren, brachte sie ihre Sachen wieder in die Kammer zurück. Nie fragte einer von ihnen, wie es ihr gehe. Es interessierte sie nicht.

An Weihnachten musste sie im kalten Zimmer bleiben und hören, wie die anderen untern sangen. Sie bekam kein Geschenk, gar nichts. Die Schokolade, die ihr die Tante geschickt hatte, wurde ihr weggenommen.

Jeden Freitag versammelten sich die Mitglieder der Heilsarmee im Haus der Pflegefamilie. Es waren zehn Gäste, die "Halleluja" sangen. Resi Eggenberger hasste die "Siechen".
Einmal schenkte ihr die Mutter ein paar Würstchen, die sie freudig nach Hause brachte. Die Pflegemutter aber schlug sie blau deswegen, weil die beiden Verdingkinder die strikte Anweisung erhalten hatten, von niemandem etwas anzunehmen und mit niemandem zu reden. Die Würstchen verschwanden in der Vorratskammer. Auch grosse Geschenke, die sie von ihrer leiblichen Mutter erhielt, wie etwas eine Skihose und einen Davoser Schlitten, durfte sie nicht behalten.

Die Familie, die Roger Hostettler aufnahm, gehörte einer strengen evangelischen Religionsgemeinschaft an. Der Knabe brachte die frommen Bibelsprüche mit dem Verhalten ihm gegenüber nicht in Einklang: "Man betete immer. Am Sonntagmorgen ging man in die Kirche, am Sonntagnachmittag ins Sektenlokal. Andererseits liessen sie mich arbeiten bis zum Gehtnichtmehr." Roger Hostettler ersetzte als Verdingkind den Knecht. Der Knabe musste selbst dann schuften, wenn er krank war. Als er einmal starkes Fieber hatte, befahlen ihm die Pflegeeltern, den Stall zu misten, bevor er sich in der ungeheizten Kammer ins Bett legen durfte.
Ein gutes Verhältnis hatte der Knabe mit den Tieren, vorallem mit dem Hofhund.

Als Franz Buschacher sechs Jahre alt war, starb seine Pflegemutter. Er wurde mit anderen Verdingkindern an eine Versammlung in der Gemeinde gebracht. Die Bauern betasteten die Kinder, um zu erkunden, wie kräftig sie waren. Dann wählten sie die Stärksten aus. Franz Buschacher war schmächtig. Niemand wollte ihn. Er blieb bis zum Schluss übrig. Schliesslich nahm ihn der Weibel der Gemeinde mit, der auch noch einen Hof bewirtschaftete. Franz Buschacher erinnert sich, wie der Bauer sagte: "Der ist ja nichts wert, der kann ja nicht arbeiten, aber ich nehme ihn mit, den lehre ich arbeiten." Über dem Hühnerstall bekam der Sechsjährige eine Kammer. Zum Schlafen diente ihm eine Strohmatte. Die Kammer war voll Ungeziefer und im Winter eisig kalt. Am Morgen musste der Knabe um fünft Uhr aufstehen und auf dem Hof arbeiten. Für Schulaufgaben fand er keine Zeit. Der Lehrer schlug ihn und liess ihn nachsitzen. Kam der Knabe dann zu spät nach Hause, erhielt er nochmals Schläge. Der Bauer verprügelte ihn im Saustall mit einem Seil, bis er blutete und nicht mehr sitzen konnte.
Einmal zeigte Franz Buschacher dem Dorfpolizisten seine schweren Verletzungen. Der Polizist drohte dem Gemeindeweibel mit einer Anklage. Der Weibel musste bestätigen, den Knaben nicht mehr zu schlagen, liess sich das aber nicht bieten. Er nahm Franz Buschacher zum Gemeindepräsidenten mit und beklagte sich, den Bub nicht mehr strafen zu dürfen. Der Gemeindepräsident anerbot ihm, dass er den Buben in Zukunft zur Züchtigung zu ihm bringen könne, und stellte so die alte Ordnung wieder her.

Sein Wunsch als Kind war es, dass ihn jemand hole oder dass er am Morgen nicht mehr aufwache. Immerhin hatte er es geschafft, dem Druck der Frau in einer Hinsicht nicht nachzugeben: Er hat sie nie Mutter genannt, was sie ihm übelnahm und wofür er Schläge bekam. "Geohrfeigt und an den Haaren gerissen, bis sie nicht mehr konnte. Dann musste es ihr Sohn machen.

Am Sonntagnachmittag hatte der Knabe frei, doch mit anderen Kinderen spielen durfte er nicht. "Ich bin nur herumgesessen und habe geweint und einfach "schaurig" Heimweh gehabt, und kein Mensch hat sich um mich gekümmert.
Dem Knaben wurde lange erfolgreich eingebläut, dass er bei Besuchen der Behörden oder der Eltern sagen solle, es ginge ihm gut und er müsse nicht arbeiten.

Widerstand, Flucht und Momente des Glücks

Das gemeinsame Element aller Erzählungen ist das Gefühl des Ausgeliefertseins: nicht über seine Lebensumstände bestimmen zu können und ungenügend oder gar nicht darüber informiert zu sein. Dies begann meistens bereits mit der ersten Fremdplatzierung. Viele Kinder wurden erst am Tag der Verdingung oder gar erst nach Eintreffen am Verdingort über die neue Lebenssituation informiert.

Martha Knopf wurde jeweils ohne Vorwarnung vom einem Ort weggeholt und an einen neuen gebracht. Die genauen Umstände und Gründe für die Umplatzierung erfuhr das Mädchen nicht.

Die Reaktion auf diese oftmals als kaum tragbar erlebte Situation war unterschiedlich. Während sich einige Kinder offen dagegen auflehnten, passten sich andere der Situation an und entschlossen sich , bewusst oder unbewusst, auszuharren. Auf alle Fällen mussten sie einen Umgang mit der Situation finden, um nicht daran zu zerbrechen. Die Hoffnung auf die Volljährigkeit und die damit verbundene Freiheit half ihnen dabei.

Herbert Rauch flüchtete in einer Winternacht nur mit dem Nachthemd bekleidet vor einer drohenden Bestrafung. Er musst aber wegen der eisigen Kälte und mangels Alternativen wieder zurückkehren.

Bei Johann Rindisbacher zieht sich die physische Flucht durch seine gesamte Kindheit bis ins Erwachsenenleben. Er lief wegen schlechter Behandlung bei den Bauern weg, wurde aufgegriffen und kam an einen neuen Ort. Dies wiederholte sich einige Male. Schliesslich wurde er in einem Erziehungsheim untergebracht. Auch dort fand er einen Fluchtweg. Als er neuerlich aufgegriffen wurde, kam er vor Gericht. Es folgte das Jugenderziehungsheim, ein erneuter Ausbruch zusammen mit anderen Jugendlichen, dann das Gefängnis, erneute Flucht, und schliesslich das Zuchthaus. Johann Rindisbachers Hilfeschrei wurde von den Verantwortlichen nicht gehört. Stattdessen wurde er mehr und mehr kriminalisiert, weil er während der Flucht Lebensmittel gestohlen hatte, um nicht zu verhungern.

Die Flucht vom Verdingort ohne konkretes Ziel war meist nicht von Erfolg gekrönt.

Neben diesen spontanen Fluchtversuchen baten einige Kinder aussenstehende Erwachsene um Hilfe. Martha Knopf vertraute sich Dorfbewohnern an und erreichte so eine Umplatzierung. Aber auch diese Strategie führte nicht immer zum Erfolg. Johann Rindisbacher zum Beispiel vertraute sich dem Pfarrer an. Doch dieser wandte sich an die Pflegeeltern des Knaben, was Schläge zur Folge hatte. Eine Veränderung der Situation erreichte er aber nicht.

Eine weitere tragische Form der Flucht war schliesslich der Selbstmord. Die Zahl jener, die sich als junge Menschen das Leben nahmen, ist nicht unbedeutend.

Für Herbert Rauch waren Schläge an der Tagesordnung. In einem Wutanfall schlug ihm der Bauer eines Tages mit einer Hacke den Kopf blutig. Es kam auch vor, dass Herbert Rauch an einen Pfosten gebunden und mit einem nassen Seil geschlagen wurde.  Die Familie gab sich gegen aussen streng gläubig.
Dass er ein Verdingbub gewesen war, hat Herbert Rauch in seinem ganzen Leben immer wieder in verschiedensten Situationen zu spüren bekommen. An einer Klassenzusammenkunft sprach niemand mit ihm; er wurde einfach ignoriert: "Dann bin ich aufgestanden, habe bezahlt und gesagt: "Ich komme nicht mehr."

Johann Rindisbacher erledigte alle ein einem Landwirtschaftsbetrieb anfallenden Arbeiten. Wenn es viel zu tun gab, ging er nicht zur Schule. Darauf reagierten aber weder Lehrer noch Behörden, da sie diese Behandlung guthiessen.

Rosmarie Schmid weiss nur, dass sie halbjährig war, als ihr erster Pflegevater sie und eine Kuh, die er gekauft hatte, nach Hause brachte. Viel später erfuhr sie, dass sie damals im "Schweizerbauer" ausgeschrieben war.

Es ist traurig, wie viele dunkle Kapitel der Geschichte sich auf die gleiche Stufe stellen lassen - bis in die Gegenwart: Indianer-Ausrottung, Sklavenhandel, Hexenverbrennung, Juden- und Zigeunerverfolgung, das Verding-Kinderwesen und das heutige Massenverbrechen an den Nutztieren. Im Unterschied zu historischen Ereignissen ist aber bei der Ausbeutung der Nutztiere nicht die Rede von der Vergangenheit; es ist ein Massenverbrechen, das hier und jetzt mitten unter uns abläuft -  von den Behörden toleriert, von Nachbarn und der Öffentlichkeit durch Wegschauen und Verdängen überhaupt erst ermöglicht.

Besonders die Paralellen zwischen Sklavenhaltung, Verdingkindern und Tierhaltung ist erschütternd. Die Geschichte wiederholt sich geradezu. Bei allen diesen Massenverbrechen geht es um die landwirtschaftliche Ausbeutung von Wehrlosen mit immer den gleichen Rechtfertigungen: Minderwertigkeit der Unterdrückten und Ausgebeuteten und angeblich wirtschaftlicher Notwendigkeit.

Die Charaktermängel, welche solches Elend ermöglichen sind immer die gleichen: feiges, egoistisches Wegschauen, Vedrängen und Rechtfertigen mit haltlosen Behauptungen und Ausreden.

 

Das Verding-Kinderwesen ist  auch in einem anderen, schon im Jahr 2004 erschienenen Buch dargestellt:
"Gestohlene Seelen - Verdingkinder in der Schweiz"
 von Lotty Wohlwend und Arthur Honegger, Verlag Huber. Ausschnitt daraus:

Ein Fall, der damals an die Öffentlichkeit gelangte:
Februar 1945: auf einem abgelegenen Gehöft in Frutigen verlangte man nach einem Totenschein für ein verschiedenes Pflegekind. Als der Arzt die Leiche sah, weigerte er sich, den Totenschein für den erst fünfjährigen verstorbenen Knaben auszustellen. Die medizinische Obduktion ergab schliesslich einen "typischen Fall von Kindsmisshandlung mit tödlichem Ausgang: starke Abmagerung, Unterernährung (der Knabe wog lediglich 13 Kilogramm), am Hals ein grosser eitriger Abszess, die Kleider voller Eiter. An den Fingerbeeren Frostbeulen, die Haut war weg, der ganze Körper mit Striemen übersät." Später wurden in der Lunge des Knaben Schaumblasen festgestellt, Zeichen einer offenbar ausserordentlichen Erregung. Im Haus, wo das Kind untergebracht war, fand man auf dem Hofplatz und im Hauseingang Blutspuren. Das Pflegeehepaar genoss in der Gemeinde Frutigen einen guten Ruf. Die Frau war 22, der Mann 30 Jahre alt.
In diesem Fall wurde deutlich, mit welcher "Sorgfalt" Verdingkinder in der Praxis der Landgemeinden versorgt wurden. Mehrere gesetzlich bereits vorgeschriebene Schritte wurden unterlassen: Keine Begutachtung des Pflegeplatzes, keine spätere Kontrolle, keine Überprüfung der Pflegeeltern, niemand begleitete das Kind dorthin. Der Grund gemäss Rechtfertigungsschreiben: Sozusagen niemand war über die gesetzlichen Grundlagen orientiert.


Die angepassten, korrekten und netten Herzlosen

Heute ist viel von "Sozialkompetenz" die Rede, worunter oft angepasstes, korrektes, konventionsgemässes Verhalten verstanden wird. Dadurch werden die Menschen nur allzuleicht zu Mitläufern und leicht auch Mittätern bei Massenverbrechen. Gemäss dem bekannten Konfliktforscher Erwin Staub haben sich im Zweiten Weltkrieg vor allem unangepasste, "sozial inkompetente" Menschen gegen die Nazis gestellt, die sozial angepassten Menschen verhielten sich gemäss dem damaligen politischen Mainstream korrekt.

Stalin war bekannt für seine einnehmende Art und seinen liebevollen Umgang
mit Kindern, auch wenn er kurz davor ihre Eltern umgebracht hat. (Quelle: Allan Guggenbühl: "Alle haben sich so lieb", Weltwoche vom 15. Januar 2009).

Provokationen sind ein wichtiges Mittel, Tabus aufzubrechen und festgefahrene Auffassungen zu hinterfragen. Mit meinen Provokationen habe ich das Tabu, das jüdische Schächten zu kritisieren, gebrochen - mit zwei Konsequenzen: Ich wurde deshalb zu Gefängnis verurteilt, habe aber die vom Bundesrat geplante Aufhebung des Schächtverbotes verhindert. Das Thema Schächten bleibt aber leider  weiterhin auch in der Schweiz aktuell, weil der Bundesrat das gesetzliche Schächtverbot nun einfach mit Import-Privilegien für Schächtfleisch umgeht, womit das Schächtverbot zu einem grossen Teil illusorisch wird.

"Bitte senden Sie uns Ihre Zeitschrift nicht mehr, ich kann sie vor Ekel kaum je lesen und unsere Tochter, die Tierärztin werden möchte, weinte schon, als sie eine Ausgabe erwischte." Zuschriften wie diese erhalten wir immer wieder. Oft werden die Kinder vorgeschoben, um das Wegschauen zu rechtfertigen. Man "ekelt" sich zwar, man ist ja ein guter Mensch, der Tierquälerei ablehnt, aber möchte nicht informiert werden und bestellt die Zeitschrift lieber ab, als sie weiterzugeben oder jemand anderem in den Briefkasten zu werfen, der vielleicht Aufklärung nötig hat. Wegschauen, geht mich nichts an, die Tierschutzvereine sollen gefälligst dafür sorgen, dass Missstände beseitigt werden. So denken sie, die Korrekten, Freundlichen, Netten, Angesehenen, Gläubigen und Gutmenschen, die vielen Stalins, welche Massenverbrechen ermöglichen, statt mithelfen, sie zu verhindern. Früher waren es die Massenverbrechen an Indianern, Negern, Hexen, Juden und Zigeunern, heute der Holocaust an den Nutztieren. Und wen der Begriff Holocaust im Zusammenhang mit den Nutztieren stört, weil darin ein Vergleich mit Massenverbrechen an Menschen anklingt und man Tiere und Menschen doch nicht vergleichen kann, der hat ein gewaltiges ethisches Defizit, das er aber vermutlich gar nicht beheben will, weil es sich damit scheinbar leichter leben lässt. Er wird aber später nicht sagen können, er habe nichts gewusst. Wer informiert sein will, der kann sich informieren, auch zu diesem Thema: www.vgt.ch/doc/tier-mensch-vergleich

Aus heutigen und künftigen Geschichtsbüchern:

Sklavenschiff im Jahr 1880
Mindestens 7 Millionen Afrikaner und Afrikanerinnen wurden im transatlantischen Sklavenhandel  verschleppt. Weitere Millionen hatten den Transport nicht überlebt. In den 1780er-Jahren erreichte der englische Sklavenhandel den Höhepunkt. Zum gleichen Zeitpunkt wurden heftige Kampagnen gegen die Sklaverei geführt. (Quelle: Tages-Anzeiger 28.3.07)

 

Schweinefabriken in der Schweiz im Jahr 2008
Rund 1.5 bis 2.0 Millionen Schweine wurden in Ende des 20. und in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts so oder ähnlich in Schweizer Tierfabriken gehalten. Um das Jahr 2000 erreichte der Fleischverzehr seinen Höhepunkt. Zur gleichen Zeit  führte ein Verein namens "Verein gegen Tierfabriken Schweiz" heftige Kampagnen gegen die KZ-artige Massentierhaltung .


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