Robin Hood
Kämpfer für Gerechtigkeit und Beschützer der Rechtlosen
Im ausgehenden Mittelalter lebte in der englischen Grafschaft Yorkshire ein Mann
namens Robin Hood. Von den Machthabenden geächtet, kämpfte er gegen die
Unterdrückung der Rechtlosen. Wer realisiert, dass heute die Tiere die
ausgebeuteten und unterdrückten Rechtlosen sind, wird eine erschreckende
Analogie zur heutigen Zeit erkennen.
Fünfte Folge:
Das Wettschiessen
Eines Morgens kamen viele fröhliche Gruppen die Strassen und
Waldwege entlang gezogen, von Worksop, Mansfield, Kirkby und Woodstock und einem
Dutzend kleiner Dörfer aus der Gegend von Sherwood Forest, und alle zogen sie
nach Nottingham zu des Sheriffs Bogen-Wettschiessen, und alle wollten sie am
Abend mit dem begehrten Silberpfeil wieder heimkehren.
Auf dem glatten Rasengelände vor der nördlichen Stadtmauer waren die
Schiessstände mit den neuen Zielscheiben aus Stroh schon errichtet, an jedem
Ende des langen Schiessplatzes; und ringsherum, dicht unterhalb der Mauern und
sogar halb im Tor, waren Buden, Stände und Schautische aufgestellt, so dass das
ganze Gelände wie ein grosser Jahrmarkt aussah. Aus ganz Nottinghamshire und dem
Peak District waren Händler, Gaukler und Taschenspieler gekommen, um den
herbeiströmenden Zuschauern ihre Künste zu zeigen und ihre Waren anzupreisen.
Robin und seine Männer schoben sich durch die Menschenmenge, die sich schon
eingefunden hatte, und betrachteten mit grossem Vergnügen das fröhliche Treiben,
das ihnen, die die Waldeinsamkeit des Greenwood gewöhnt waren, so sonderbar
erschien. Hier stand eine rot-gelb gestreifte Bude, in der es leuchtend goldenen
Ingwerkeks und Pfefferrninzbonbons zu kaufen gab; dort waren Buden mit Getränken
aufgebaut; hier war ein offener Stand, der gestickte Falkner-Handschuhe zur
Schau stellte, rotbuschige Hauben für die Falken und Fussriemen mit silbernen
Haken. Ein Balladensänger war da und ein Jongleur in Grün und Gelb, der
Glöckchen, Bälle und frische Rosen wie einen schimmernden Bogen in die Luft
warf.
Von einem Stand zum anderen gingen sie, lauschten dem Balladensänger, sahen dem
zerlumpten Akrobaten zu, und Robin ergötzte sich an alledem ebenso wie seine
Männer. Überall stiessen sie auf andere Bogenschützen, die gekommen waren, um
ihr Können auf die Probe zu stellen; doch bildeten diese nur den kleineren Teil
der sich vergnügenden Menschenmenge, die jedes Fleckchen zwischen den Ständen
ausfüllte und zwischen den Stadttoren hin und her wogte. Ehrbare Bauern mit
ihren apfelwangigen Frauen und Töchtern, Kaufherren in pelzbesetzten Mänteln mit
ihren Damen in bunter sommerlicher Seide und Satin; magere braungebrannte
Knechte mit Schuhen, an denen noch die Ackererde klebte, und ein paar
Kupfermünzen in der Tasche; alle waren sie gekommen, um dem Wettkampf um den
Silberpfeil zuzusehen, um sich zu vergnügen und die Possen der Gaukler zu
bestaunen und von den bunten Ständen die hübschen Sachen zu kaufen. Um die Füsse
der vielen Menschen spielten und tollten kleine Kinder und grosse Hunde.
Das Schiessen sollte eine Stunde vor dem Mittag beginnen, und da, nach dem
Sonnenstand zu urteilen, diese Stunde naherückte, machten Robin und seine Männer
sich auf den Weg zu den Schiessständen. Von einigen Waldhütern freigehalten, lag
die weiche grüne Rasenfläche leer und still zwischen der fröhlichen Menge und
den bunten Jahrmarktsbuden, die sie umgaben. An der einen Seite war eine Tribüne
aufgeschlagen, von der aus der Sheriff und seine Gäste dem Schiessen zuschauen
würden. Das rauhe Holz war bemalt und vergoldet und mit rotem Stoff verkleidet,
und davor ruhte der Silberpfeil auf zwei gegabelten Haselästen. Er funkelte und
glänzte in der Sonne, von zwei kräftigen Kriegern bewacht.
“Da ist er, Freunde“, sagte Robin. “Ein hübsches Spielzeug. Es
lohnt sich, darum zu schiessen!“ Er liess seine Stimme sinken und
murmelte: “Sechs von euch sollen mit mir zusammen schiessen, die übrigen bleiben
hier, für den Fall, dass es Schwierigkeiten gibt.“
“Erwartet Ihr Schwierigkeiten?“ fragte Little John.
“Nein, John, aber Vorsorge zu treffen ist wichtig. Du kömmst
also mit mir - und Mitch - und Gilbert - und Hugh.“ Er zögerte, seine Augen
schweiften über die eifrigen Gesichter seiner Leute, dann fuhr er fort: “Und du,
Will Scarlet - und du, Reynold.“
Die Seitenstreifen des Feldes begannen sich zu füllen, als die
Ersten die Stände und Gaukler verliessen und herbeiströmten, um sich gute Plätze
zum Zuschauen zu sichern. Die grün-gekleideten Waldhüter hatten es jetzt schwer,
den glatten Rasen des Feldes freizuhalten; Robin und die Seinen wurden von den
nachdrängenden Bogenschützen, die alle nach vorn wollten, hin und her gestossen.
Kraft ihrer Ellenbogen gelang es den Geächteten, ihre Plätze ganz vorne zu
behaupten. Da sie den ganzen Weg vom Barnesdale-Wald gekommen waren, um
das,Schiessen zu sehen und daran teilzunehmen, hatten sie nicht die Absicht,
sich in den Hintergrund drängen zu lassen, von wo aus keiner von ihnen - ausser
vielleicht Little John - etwas würde sehen können.
Bald erschien auch der Sheriff mit seiner Lady am Arm, und mit
ihm kamen noch einige Kaufherren mit ihren Frauen. Sie stiegen die hölzernen
Stufen der rot verkleideten Tribüne hinauf, nahmen auf den mit Kissen bedeckten
Bänken Platz, und die Damen breiteten sorgfältig ihre damastenen Röcke aus. Der
Sheriff lehnte sich in die Kissen, faltete die Hände über dem Bauch und drehte
sich zu einem Mann zu seiner Linken, einem mageren Mann, der vornübergebeugt
sass und sich mit scharfen Augen umsah. Sein Gesicht lag tief im Schatten der
nach vorn gezogenen Kapuze, irgendwie machte er nicht den Eindruck eines
Kaufmannes.
Über die Mauern reckten und streckten sich die Köpfe der Schaulustigen immer
weiter vor; Hunde, die zwischen den Beinen der Leute herumrannten, wurden
schnell am Halsband ergriffen, kleine Kinder wurden auf die Schultern der Väter
geschwungen, damit sie über die Köpfe der Menge hinweggucken könnten.
Endlich trat ein Krieger vor die Tribüne, hob sein Jagdhorn an
die Lippen und liess einen hellen, durchdringenden Ton erschallen.
“Diejenigen, die an dem Wettschiessen um den Silberpfeil teilnehmen wollen“,
rief er, “mögen ihre Bogen nehmen und vortreten.“
Sofort fing das Stossen und Schieben wieder an, als die
Schützen sich durch die Menge drängten und auf das offene Feld heraustraten.
Zusammen wurden sie dann zu einem Platz geführt, der an dem einen Ende der Wiese
wie ein Schafpferch eingezäunt war. Unter ihnen befänd sich auch Robin mit
seinen auserwählten sechs Männern. Die übrigen blieben, wo sie waren, zwanglos
an ihre Bogen gelehnt und dennoch wachsam, bereit einzugreifen, falls eine
Schwierigkeit entstehen sollte.
Wieder ertönte das Jagdhorn. Der erste Schütze trat vor, aber er schoss schlecht
und zog sich, rot vor Verlegenheit, unter dem spöt-tischen Gelächter der
Zuschauer zurück, um dem zweiten Schützen Platz zu machen. Das war ein kleiner
verhutzelter Mann mit einem zerzausten flachsfarbenen Schopf, der in Strähnen
unter seiner Kapuze hervorschaute; er hob seinen Bogen und liess den Pfeil los
-schnellen mit einer Leichtigkeit, die kaum einer von Robins Männern hätte
übertreffen können; der Pfeil schwirrte über die Wiese und prallte knapp eine
Handbreit vom Pflock entfernt in das Ziel. Dreimal schoss der kleine Mann, und
es waren gute Schüsse, wenn auch nicht so genau wie der erste. Dann trat er
beiseite und ging seine Pfeile holen, die ein Waldhüter, der auch die Punkte
zählte, aus der Zielscheibe gezogen hatte.
“Ein guter Schütze war das, John“, sagte Robin leise, “ich
wünschte, den hätten wir bei uns.“ “Vielleicht wird das eines Tages der Fall
sein, Master“, erwiderte Little John beiläufig und beobachtete den nächsten, der
hervortrat, um zu schiessen. Doch Robin schaute dem kleinen Schützen nach, und
da sah er etwas Seltsames: als dieser nämlich an seiner eigenen kleinen Gruppe
vorbeiging, hob er plötzlich den Kopf, zögerte, als ob er einen von ihnen
ansprechen wollte, ging dann aber weiter; im gleichen Augenblick blickte Alan
A‘Dale hoch, sah ihn und schaute sofort wieder weg. Selbst aus dieser Entfernung
konnte Robin sehen, dass die beiden sich erkannten, das aber sofort wieder zu
verbergen verstanden.
Als nächster trat ein Krieger hervor, spannte den Bogen und schoss auch gut;
danach aber war eine ganze Weile kein Schuss mehr zu se-hen, den zu beobachten
sich gelohnt hätte.
Um zwei Uhr mittags wurde eine Pause eingelegt, die Menge
zerstreute sich, die reicheren Leute suchten die Gasthäuser und Schenken von
Nottingham auf, die ärmeren liessen sich an der Stadtmauer nieder und stillten
ihren Hunger mit Schwarzbrot und gelbem Käse, die glücklicheren unter ihnen mit
fettem Speck. Der Sheriff und seine Gäste entfernten sich durch das Tor, um ein
Mittagsmahl - kalte Hammelpastete und buntes Marzipan - unter den blühenden
Rosen im Garten des Sheriffs zu verspeisen; und auf dem Rasen unterhalb der
Stadtmauer, von den anderen ein wenig entfernt, streckten sich Robin und seine
Männer aus, verzehrten ihr mitgebrachtes Essen und beredeten gemächlich die
Ereignisse des Vormittags.
Endlich rief das Jagdhorn wieder zu den Schiessständen, und wieder hob das
Drängeln und Stossen an. Mehrere herrenlose Hunde mussten vom Feld entfernt
werden; ein kleiner Junge, den man schlafend im Schatten eines Schiessstandes
gefunden hatte, wurde seiner Mutter übergeben; und nachdem auch der Sheriff und
seine vornehmen Gäste sich wieder auf der Tribüne niedergelassen hatten, fing
das Schiessen von neuem an.
Schläfrig verstrich der lange heisse Sommernachmittag, ein Mann nach dem anderen
trat hervor, um seinedrei Pfeile abzuschiessen, die träge über das Feld summten,
und wenn ein Pfeil das Ziel traf, erklang das scharfe “zck“ in der warmen Luft.
Wie ein verzaubertes Blü-tenblatt tanzte ein gelber Schmetterling über die Köpfe
der Menge, und aus den Wäldern erklang hin und wieder das leise Rufen eines
Kuckucks.
Schon wurden die Schatten länger, als endlich die sieben Geächteten an die Reihe
kamen. Jung Gilbert machte den Anfang. Weich und gut schnellte der Pfeil von der
Sehne, und sein dritter Schuss sass drei Finger vom Pflock entfernt. Robin
nickte Beifall, und Reynold trat an des Jungen Stelle.
Jeder der Geächteten schoss hervorragend, und Robin beobachtete jeden einzelnen
voller Stolz: den schlanken jungen Gilbert, den un-tersetzten ergrauten Reynold;
Will Scarlet, der in dem groben Wolltuch gerade so schmuck aussah wie früher in
seinem Samt; den klei-nen, braunen, drahtigen Mitch; Hugh Green-leafe, frisch
und kräftig; und schliesslich den riesigen Little John mit seinen freien,
lockeren Bewegungen. Ein jeder hob den Bogen, spannte und schnellte los mit
einer einzigen geschmeidig-kraftvollen Bewegung; und als Pfeil auf Pfeil in die
inneren Kreise der Zielscheibe traf, drängten sich die Zuschauer immer weiter
nach vorn und verliehen leise murmelnd ihrer Bewunderung Ausdruck, denn nie
zuvor hatte man derartiges Können gesehen.
Als letzter an jenem Nachmittag ergriff Robin seinen Bogen und trat auf das Feld
hinaus. Aller Augen waren auf ihn gerichtet, als er den Bogen hob und den Pfeil
einspannte. Die Sehne summte ihren tiefen Ton, als er den Pfeil losschnellen
liess; der Pfeil surrte über das besonnte Feld und blieb, einen Fingerbreit
neben dem Pflock, zitternd in der Scheibe stecken. Er spannte und schoss wieder,
und
ein zweiter Pfeil streifte den Pflock auf der anderen Seite. Atemlose Stille lag
über der Menge, als er den grossen Bogen zum dritten Mal spannte. Aller Augen
verfolgten den Flug jenes dritten Pfeiles, der über das Feld sauste, in der
Sonne wie ein Feuerstreif aufglänzte und mit dumpfem “plop“ ins Ziel traf. Die
Menge brüllte auf; die Damen auf der Tribüne beugten sich vor und klatschten in
die Hände, und selbst der Sheriff setzte sich auf und schnaubte Beifall. Robin
hatte den Pflock gespalten!
Die Menschenmenge wogte vorwärts und ergoss sich auf das Feld. Zwei Waldhüter
untersuchten die Zielscheibe, gingen zur Tribüne
und flüsterten mit dem Sheriff. Dieser sprach mit seiner Gemahlin, die sich von
ihrem Sitzkissen erhob, ihre Röcke glättete und den glän-zenden silbernen Pfeil
von dem Platz aufnahm, auf dem er den ganzen Tag geruht hatte. Robin wurde zu
den Stufen der Tribüne ge-drängt. Er stieg sie empor und beugte das Knie vor der
Gattin des Sheriffs, die sich freundlich lächelnd vorlehnte, den Silberpfeil in
der Hand. Als er zu ihr aufblickte, drangen die schrägstehenden Strahlen der
untergehenden Sonne unter seine Kapuze und erhellten mit ihrem Glanz sein
mageres braunes Gesicht. Der Mann mit der tief heruntergezogenen Kapuze; der
neben dem Sheriff stand, beugte sich plötzlich vor und starrte ihn an. Aus den
Augenwinkeln heraus erhaschte Robin diese plötzliche Bewegung, drehte sich um,
und blickte in die zu Schlitzen verengten dunklen Augen von Guy von Gisborne,
dem Rentmeister vom Gut Birkencar.
Einen Augenblick lang blickten die beiden Männer einander in die Augen, und ihr
gegenseitiger Hass stand wie ein blankes Schwert zwischen ihnen; dann lachte Guy
von Gisborne überschwenglich und riet “Ein guter Schütze warst du seit jeher,
aber diesmal hast du deinen letzten Pfeil abgeschossen - Robin Hood!“
Fortsetzung im nächsten Heft
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