Drfen gesellschaftliche Auswirkungen von weltanschaulichen Positionen noch offen kritisiert werden?
Der Fall Erwin Kessler und das Schchte
von Dr Jakob Mller, Beringen ( Historiker, Lehrer an der Kantonsschule Schaffhausen und seit 1993 VgT-Mitglied)


Diese grundstzliche Problematik wird am Beispiel von Kessler und des Schchtens behandelt, weil der Fall aktuell und zugleich exemplarisch ist, wie alsbald gezeigt werden soll. Er beleuchtet die heutige Situation. Natrlich stellt sich das imTitel formulierte Grundproblem auch anderswo. Ein weltgeschichtliches Beispiel ist der puritanisch geprgte frhindustrielle Unternehmer, der seinen Aufstieg und die oft furchtbaren sozialen Folgen seines Handelns letztlich mit dem Willen und der Auserwhlung Gottes rechtfertigte. Ein hnliches Problem stellt sich beim trkischen Vater, der inmitten der heutigen Schweiz fr seine Tochter Dispens vom Schwimmunterricht in der Primarschule verlangt.

Im Falle des Schchtens kommen jdisch-orthodoxe, religise Positionen ins Spiel. Als direkt erfahrbare, weltliche Realitt geht es bei der Ttungsart des Schchtens um eine Frage des Tierschutzes. Diesen Aspekt kann nur derjenige als zweitrangig bewerten. dem das tgliche Leiden unserer stillen Brder (der hheren Sugetiere) kein wirkliches inneres Anliegen ist. Mit Antisemitismus hat die Problematik an sich nichts zu tun. Dieser Vorwurf wird meistens entweder in mangelnder Kenntnis der Situation oder - unbewusst oder bewusst - als Mittel zum Zweck vorgebracht - um nicht auf das Problem eingehen zu mssen. Dem sei beigefgt: Der Verfasser darf sich als ausserhalb jeden Verdachtes des Antisemitismus betrachten. Es gbe dazu eine ganze Anzahl eindeutiger und nachprfbarer Belege. Ich nenne lediglich zwei. Ich habe schon vor vielen Jahren die Politik der offiziellen Schweiz gegenber den jdischen Flchtlingen im 2. Weltkrieg ffentlich als furchtbares, grossenteils schuldhaftes Versagen bezeichnet. Und ich halte die Art, wie unsere Grossbanken seit Jahrzehnten das Problem der nachrichtenlosen Vermgen behandeln, als fragwurdig. Ich bin Unterzeichner des Manifestes vom 21. Januar 1997. Dass es auch bei uns Leute gibt, welche auf Grund des Schchtproblems ihre antisemitischen Gefhle besttigt sehen, sie neu entfachen und manifest werden lassen, ist leider anzunehmen. Ich kann deshalb nicht ausschliessen, dass diese Darstellung Beifall von solcher Seite erhlt. Es wre ein Beifall, der mir durchaus unerwnscht wre und welcher nun zeigen wrde, dass diese Leute die Darstellung nicht offen und unvoreingenommen gelesen haben.

Es bleibt bestehen: Es muss auch heute mglich sein, Fragen wie das Schchten offen und - mit sachlichen, guten Argumenten - fundiert und kritisch.zu behandeln. Der Rassismus-Prozess gegen Erwin Kessler hat Hintergrnde und weitere Zusammenhnge. Diese sind nunmehr zu beleuchten.

Hintergrunde und weitere Zusammenhnge

Vorweg ist festzuhalten: Viele usserungen von Kessler werden von seinen Gegnern nachweisbar aus einem komplexen grsseren Zusammenhang gerissen. Dadurch wird ein einseitiges bis falsches Bild von ihm gezeichnet. Der Grnder und Prsident des Vereins gegen Tierfabriken gehrt zu jenen, welche die Schrfe des Denkens und den Mut haben, nahezu allgemeine, aber hchst fragwrdige Tabus zu brechen, offen zu reden und entsprechend zu handeln. Dies hat er im Bereich einer nach wie vor weithin tierqulerischen und gesetzwidrigen Nutztierhaltung bewiesen. Diese Problematik berschreitet heute lngst die Landesgrenzen. Ein Stichwort dazu: Tiertransporte durch Europa. Verwandtes gilt fr die Einhaltung der Menschenrechte, welche auch nicht an nationalen Grenzen Halt machen kann. Dasselbe gilt fr das Schchten.

Und hier besteht nun ein besonderes Problem, das heute weitherum beschwiegen wird. In den letzten Jahrzehnten haben manche Einzelne und Gruppen jdischer Abstammung die Tendenz entwickelt, auch auf sachliche, begrndbare Kritik an jdischen Realitten sehr empfindlich zu reagieren. Solche Kritik wird in diesen Fllen schnell als gegen das Judentum berhaupt und gegen die eigene Person gerichtet betrachtet

Ein Beispiel war und ist in vielen jdischen und philosemitischen Kreisen das allergische Reagieren auf Kritik an israelitischer Politik gegenber den Palstinensern. Diese Art zu reagieren wurzelt in der Traumatisierung durch das Entsetzliche des Holocausts und die stets erneute, unchristliche Diskriminierung und vielfache Verfolgung der Juden im christlichen Abendlande bis in unser Jahrhundert. Die genannte Bereitschaft, empfindlich zu reagieren, ist also erklrbar und zutiefst verstndlich. Das heisst indessen nicht , dass sie in jeder konkreten Situation richtig und schlechthin zu akzeptieren sei. Auch das Fhlen, Denken und Handeln eines Kindes kann psychologisch durchaus nachvollziehbar sein. Daraus wird ein tieferes Verstndnis resultieren. Das heisst aber nicht, dass wir dieses Reagieren auf die Dauer tolerieren knnen.

Allergische und ideologisierte jdische Abwehr von Kritik

In dieser traumatisierten, immer noch schwierigen Lage unterliegen viele Juden der Gefahr, sich in einseitiger und starrer, ideologischer Weise gegen jegliche, auch berechtigte Kritik an jdischen Institutionen zu solidarisieren. An dieser Stelle mchte ich festhalten: Ich freue mich darber, dass jdisch geprgtes Leben - inmitten eines immer noch weitverbreiteten Antisemitismus - in den letzten Jahrzehnten kraftvoll dasteht, sich wehren und berechtigte Wiedergutmachung fordern kann. Auch und gerade jdische Interessen sollen vertreten werden knnen. Es besteht aber heute die Gefahr, diese gestrkte Stellung in der genannten, ideologischen Weise zur Ausbung von Einfluss zu bentzen.

Das Problem des Schchtens in dieser Situation

Vergleichbare Zge beginnt nun die Auseinandersetzung um das Schchten anzunehmen. Erwin Kessler hat es nachweisbar erlebt, dass auf seine Bestrebungen, das Schchten nur noch unter Betubung der Tiere durchzufhren, kaum oder gar nicht sachlich eingegangen wurde. Hier spielte und spielt in hohem Masse der genannte allergische und starre Solidarisierungseffekt. Auch prominente jdische Mitbrger, die weit von jdischer Orthodoxie entfernt sind, solidarisieren sich in der Frage des Schchtens im erwhnten Sinne. Sie helfen mit zu mauern, um es fr einmal mit einem volkstmlichen Ausdruck zu sagen. Ob das wirklich ihren Interessen dient, bleibe dahin gestellt. Die Gefahr, damit Antisemitismus erneut zu frdern, ist nicht gering. Anders gesagt: Im Kampf gegen den Antisemitismus ist der Prsident des VgT der falsche Gegner!

Das Schchten - gedeckt durch die Religionsfreiheit ?

Hier soll es nun aber - abschliessend und entscheidend - um die grundstzlichste Frage gehen: Wie soll es beurteilt werden und was soll geschehen, wenn weltanschauliche Positionen, ganz gleich, welcher Herkunft, sich in erfahrbarem und offenkundigem, aber problematischem Handeln in der Welt, in der Gesellschaft auswirken wollen?

Als erstes ist festzuhalten: Sobald sich religis-philosophische Positionen im weltlichen, gesellschaftlichen Leben so auwirken, dass die Grundrechte anderer Wesen in Frage gestellt werden, mssen sich diese Auswirkungen der Auseinandersetzung und berprfung stellen; denn sie haben in eben diesen Auswirkungen den Bereich der privaten Sphre verlassen. (Darber, dass in hohem Masse schmerz- und angstempfindliche Sugetiere nicht als Sache, als willen- und rechtlose Objekte behandelt werden drfen, sollte keine Diskussion gefhrt werden mssen.) Aus solcher Auseinandersetzung knnte sich, msste sich in manchen Fllen ein offenes und ernsthaftes Gesprch ber die zugrundeliegenden weltanschaulichen Positionen entwickeln. Aber es ist klar: Ein solches Gesprch kann nicht verlangt werden - im Gegensatz zur Auseinandersetzung ber die direkt erfahrbaren sozialen Auswirkungen einer religis-philosophischen Position in der Gesellschaft, in der Welt.

Wenn es nun aber in diesem Bereich zu unausgleichbaren Gegenstzen kommt, kann letztlich nur eine zustndige grundrechtliche Justiz auf Grund der direkt erfahrbaren, weltlichen Realitt entscheiden, was im ffentlichen Raume erlaubt ist und was nicht. Denn in einer pluralistischen Gesellschaft mit vielen verschiednen weltanschaulichen Positionen ist es vllig ausgeschlossen, dass eine religis-philosophische Position grundstzlich das Recht beanspruchen kann, sich im Kerne ungehemmt im gesellschaftlichen Leben auszuwirken. Auch Grundrechte - es muss immer wieder daran erinnert werden - sind nicht schrankenlos. Sie finden je nach konkreter Situation ihre Grenzen an denselben grundrechtlichen Anliegen anderer. Weltanschauung kann also nie allein oder berwiegend eine gengende Legitimation fr gesellschaftliches Handeln sein. Es ist demnach grundstzlich ausgeschlossen, sich fr das Schchten wesentlich auf die Religionsfreiheit zu berufen; genau so, wie wir es nicht akzeptieren und es Gerichte nicht akzeptieren knnen, wenn z.B. Teufelsaustreiberinnen sich fr ihr Tun mit Todesfolge auf ihre fundamentalistische, sektenhafte christliche Religion berufen (vor Jahren ein bekannter Fall in der sddeutschen Nachbarschaft); wenn sich orthodoxer Islam fr das Beschneiden weiblicher Geschlechtsorgane auf die eigene Religion berufen will; wenn sich Nazi-Ideologen fr ihr Handeln auf ihre Weltanschauung berufen wollten.

Aufruf zum Kompromiss: Schchten unter Betubung

Auch dies ist belegbar:Erwin Kessler hat den eben beschriebenen grundstzlichen Aspekt mehrfach betont, und zwar jahrelang gar nicht im Zusammenhang mit dem Schchten, sondern in Verbindung mit dem Tierschutz allgemein. Dies wird in den meisten Medien, die mir bekannt geworden sind, nicht bercksichtigt. Genau so wie bei heutigen jdischen Reaktionen die furchtbare Vorgeschichte einbezogen werden muss, so muss bei Kessler bercksichtigt werden, dass er seit Jahren, zuerst nahezu allein, einen gewaltigen Kampf fr eine grundlegende, wirksame Verbesserung der Nutztierhaltung gefhrt hat; dass sein Anliegen hufig teils unsachlich dargestellt, teils totgeschwiegen wurde; dass er diffamiert und ausgegrenzt wurde. Er hat tatschlich ein analoges Schicksal zu demjenigen vieler Juden erlitten. Auch er scheint mir nun nach dieser ganzen Vorgeschichte in Gefahr zu sein, zu scharf zurckzuschlagen in seinem Kampf gegen das Schchten und die Krfte, die es verteidigen (Der Verfasser hat die ganze, hier dargestellte Problematik mit ihm in einem lngeren Gesprch errtert).

Aus den dargelegten grundstzlichen Erwgungen sollte die Gegenseite Hand bieten zu einem Kompromiss, zum Schchten unter Betubung.

Sachlich begrndete Kritik muss auch im behandelten Bereiche mglich sein!

Es bleibt zum Abschluss festzuhalten: Sachlich begrndete Kritik an sozialen Auswirkungen von weltanschaulichen Positionen, zum Beispiel auch an Nationen, muss mglich bleiben. Dieser Grundsatz bedrfte eigentlich keiner weiteren Begrndung angesichts zum Beispiel von berechtigter Kritik an der Flchtlingspolitik der Schweiz im 2. Weltkrieg. Beides ist verlangt und zu verbinden: Tieferes Verstndnis-und -darauf gegrndete gerechte Kritik. Das muss auch fr jdische Thematik nach der Shoa gelten. Kritik der definierten Art muss - ein letztes Beispiel - auch an gesellschaftlichen Auswirkungen eines christlichen oder jdischen Erwhlungsg1aubens mglich sein. Alles andere wre ein Rckfall hinter die Errungenschaften der grossen Aufklrer des 18. Jahrhunderts. H i e r steht die Meinungs- und Glaubens- und Gewissensfreiheit in erster Linie in Frage! Falls Aussagen solcher Art als rassistisch gelten und deshalb ffentlich nicht mehr mglich sein sollten, wird ein gefhrlicher Weg beschritten.


Der Verfasser, Dr Jakob Mller, Jahrgang 1938, studierte an der Universitt Zrich Allgemeine Geschichte, Pdagogik und Neuere Deutsche Literatur. Er doktorierte mit der ersten wissenschaftlichen Gesamtdarstellung der Deutschen Jugendbewegung von ihren Anfngen um 1900 bis 1923. Ein weiterer Schwerpunkt seiner geschichtlichen Studien betraf die Aufklrung des 18. Jahrhunderts und die Grundrechte. Seit 1971 Hauptlehrer fr Geschichte und Staatskunde an der Kantonsschule Schaffhausen. Als Sozialdemokrat in der Region Klettgau/Schaffhausen politisch und sozialpolitisch ttig. Seit Jahren Mitglied des Schaffhauser Tierschutzvereins und des VgT.


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